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Liebe Agnes

Sept. 2008

Liebe Agnes.

Heute habe ich dich wieder gesehen. Du wohnst jetzt in dem Altenheim St. Rafael in der Aachener Soers.

Es ist noch nicht so lange her, als ich dich in deiner Wohnung besuchte. Damals konntest du deinen Kuchen noch alleine essen, durch die Wohnung gehen, obwohl du schon erblindet warst, und du wusstest noch, wann du geboren bist. Nur das Geburtsjahr hattest du vergessen. Als es Abend wurde, kam eine Unruhe in dir auf. Du standest vom Sofa auf, sahst irritiert umher und sagtest „ich muss nach Hause“.

Vielleicht wolltest du schon damals dahin, wo du jetzt bist, wer kann das wissen ?

Ich sah dich heute in deinem Bett liegen. Es hat eine intelligente  Matratze. Sie pumpt sich von selbst auf, wenn irgendwo ein Hohlraum entsteht. Das soll ein Wundliegen verhindern. Deine Augen waren geschlossen und deine Lippen in den Mund gezogen, wie bei einem verschrumpelten Apfel. Deine künstlichen Zähne fehlen dir nicht. Sie sind für dich vollkommen überflüssig. Du siehst gepflegt aus. In deinem linken Arm lag der Fridolin, ein schwarz-weißer Wollhund, den deine Schwiegertochter dir geschenkt hat. Als ich dir sagte; wer ich bin, öffnetest du deine Augen und bewegtest den Kopf leicht in meine Richtung. Auch öffnetest du den Mund und es sah aus, als formte er meinen Namen, aber sicher bin ich nicht.

Du liegst unter einer leichten Decke, die einiges verbirgt. In deinem Magen steckt ein Zugang, durch den du ernährt wirst. Täglich sickern durch einen Schlauch 1 ½ Liter Tee und zwei Portionen flüssiger Nahrung. In deinem Rücken ist oberhalb des Steißbeines eine Öffnung, die sich langsam wieder schließt, seitdem der Arzt alles entfernt hat, was nicht mehr durchblutet wurde. Du trägst Pampers, ein Katheder leitet das Wasser ab. All diese Molesten musst du ertragen und alle hoffen, dass du keine Schmerzen hast.

Auf dem Weg zur Toilette sah ich eine gut gekleidete Frau in einem Sessel sitzen. Sie hatte die Beine hochgelegt; ihr Kopf ruhte mit geschlossenen Augen und offenem Mund auf der Sessellehne. Daneben saß eine andere Frau, die mich anstarrte, als habe sie Angst vor mir. Dagegen winkte mir die Frau im Rollstuhl fröhlich zu, als sie mich sah.

Gegenüber deinem Zimmer befindet sich ein kleiner Essraum. Hier versammeln sich schon einzelne Heimbewohner um 11 Uhr, obwohl doch erst um 12 Uhr gegessen wird.

Ach Agnes, von allem um dich herum merkst du nichts mehr. Auch die Frau, die dein Zimmer säuberte, als ich bei dir war, wirst du nicht wahrgenommen haben.

Du lebst in einem Schattenreich, wohin dir von uns niemand folgen kann. Die Menschen um dich herum versuchen öfter, dich in unsere Welt zurück zu führen, aber du scheinst für nichts mehr erreichbar zu sein. Deine Augen sind klar, aber leer.

Als ich beim Abschied deine Wange und deine Hand berührte, sahst du entspannt und zufrieden aus.


 

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1 Antwort

  1. Herman WIllems sagt:

    Ein sehr schöne und ergreifende Geschichte, Erwin!

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