Das Testament – oder: Was am Ende übrig bleibt

Die Wohnung wird aufgelöst.

Im Wohnzimmerschrank liegt zwischen den Versicherungsunterlagen ein Testament.

Das Testament trägt das Datum:  1. Oktober 1955.

Im Jahre 1955 war es schwer, in Aachen eine Wohnung zu finden. Das  Paar hatte eine gefunden und war selig. „Wir haben jetzt drei Zimmer“ jubelte die junge Frau, „Wir brauchen Möbel. „Zuerst kaufen wir uns ein Schlafzimmer“, lachte der Ehemann.  „Aber die Küche ist das Allerwichtigste, wie soll ich dir sonst dein Lieblingsgericht kochen?“ versetzte die Ehefrau.

„Kannst du dich noch an unsere schöne weiße Küche erinnern?  Wir hatten sie kurz vor dem Krieg angeschafft.“ „Wir werden eine noch schönere haben“, versicherte der Ehemann. „An das Vergangene wollen wir nicht mehr denken.“

Bei einem Großangriff  auf Aachen war nämlich alles verloren gegangen. Aus dem brennenden Haus hatten die Menschen nur das retten können, was sie auf dem Leibe trugen. Da es ein warmer Sommertag war, war das nicht viel.

Aber 1955 waren die Schrecken des Krieges vergessen. Das Paar war stolz auf die schöne neue Wohnung und die modernen Möbel. Um den bescheidenen Wohlstand zu sichern, machten die beiden ein Testament. „Hiermit vermache ich im Falle meines Todes  …..“ begann es nach herkömmlichen Gepflogenheiten. Dann setzten sie sich gegenseitig  als Erben ein, damit  dem Überlebenden das Inventar der Wohnung nicht streitig gemacht werden könne. Von keinem aus der Verwandtschaft.

Jahre vergingen. Das Testament lag im Wohnzimmerschrank bei den Versicherungsunterlagen. Es wurde vergessen. Bis zum Jahre 2005 kümmerte sich niemand mehr darum.  Als es schließlich nach dem Tode der Ehefrau jemand fand,  war es nichts mehr wert.

Das heißt, die Möbel waren nichts mehr wert. Eine Nichte, die versprochen hatte, die Wohnung leer räumen zu lassen und besenrein dem Vermieter zu übergeben, ließ einen Mann kommen, der sich von Berufs wegen mit Nachlässen beschäftigte. Der besichtigte die Einrichtung, stellte eine  Stehlampe zur Seite, einen Fernseher, der vor kurzem erst gekauft worden war, einen silbernen Sektkübel, einen Sessel, der als Antiquität angesehen werden konnte, einen kleinen runden Tisch und schüttelte dann den Kopf: „ Alles andere, gute Frau, ist nicht zu verkaufen.“

„Ich nehme diese Stücke mit, dafür räumen wir Ihnen die Wohnung leer. Morgen schicke ich Ihnen zwei Männer.“ Die Männer kamen. Besichtigten die Möbel. Freuten sich über hübsche Blumentöpfe, die auf der Fensterbank vergessen worden waren,  über kleine geschnitzte Figuren, und noch über allerlei Nippes, den ihnen die Nichte schenkte, und begannen dann mit dem Abriss. Sie öffneten beide Flügel des  Schlafzimmerfensters und warfen alles hinaus, was nicht für würdig befunden worden war, verwahrt zu werden. Dazu mussten die Betten auseinander gerissen werden.  Erst flogen die Seitenteile, dann die Sprungböden, dann die Matratzen. Alles flog drei Etagen tief in den aufgestellten Container. Mit dumpfem Krach kam es unten an. Ebenso krachte der Kleiderschrank, in Einzelteile zerlegt, in den Container  – der fünftürige Kleiderschrank aus Eiche mit Spiegel, der 1955 der Stolz der Hausfrau gewesen war. Er kam krachend unten an. Der Wohnzimmerschrank folgte. Ohne Inhalt,  mit weit aufgerissenen Türen, sah er ziemlich schäbig aus. Glas und Porzellan waren längst an die LEBENSHILFE verschenkt worden.

Mit den  Versicherungsunterlagen hat die Nichte auch das Testament gefunden. Wehmütig schaut sie nun  dem Wohnzimmerschrank, der zu einem Haufen wertloser Bretter geworden ist, hinterher. Was 1955 als Reichtum gegolten hatte, wird  fünfzig Jahre später als nutzloser Plunder entsorgt.

Als die Umzugsmänner ein altes Gemälde von der Wand nehmen,  fällt eine Fotografie heraus, die dahinter verborgen gewesen war. Das Foto zeigt eine junge Frau im sommerlichen Brautkleid neben einem lachenden Marinesoldaten.  Die junge Frau war die Schwester der Verstorbenen.

Sie hatte sich, nachdem der Marinesoldat aus dem Krieg heimgekehrt war, von diesem getrennt. Kurz danach einen belgischen Colonel, der in Aachen stationiert war, geheiratet. Ihre Familie hatte mit Unverständnis und Ablehnung reagiert. . Deshalb wohl war ihr Hochzeitsfoto hinter einem  Gemälde verbannt worden. Da alle Beteiligten nicht mehr leben, braucht dieses Bild nicht mehr versteckt zu werden. Aber nun will es niemand mehr betrachten. Es ist belanglos geworden.

Manche Probleme sind  nach Jahren keine mehr, sie sind  „vom Winde verweht“.


 

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