Schlachthof Aachen
Weiße Kittel, Blut, Schweineaugen und Kopfschlächter
Während meiner Banklehre, Ende der Siebziger Jahre, wurde ich so manches Mal zur Zweigstelle 1, so die interne Bezeichnung, geschickt, um erste Erfahrungen an der Front zu sammeln.
Im Vorfeld wurde über diese Zweigstelle, die im Jahre 1993 im Zuge der Schließung des Aachener Schlachthofes ebenfalls geschlossen wurde, Merkwürdiges erzählt: Weibliche Lehrlinge wurden nicht zur Schlachthofzweigstelle geschickt. Warum nur? Das Personal dieser Zweigstelle trug weiße Kittel. An heißen Sommertagen, soll es dort bestialisch stinken und dicke Fleischfliegen sollen einen den ganzen Tag belästigen. Auch soll es schon passiert sein, dass eine Kuh, ein Pferd oder ein Schwein vor dem Verarbeitungslaufband reiß aus nahm, wild über das Gelände des Schlachthofes liefen und dabei die parkenden Autos der Bankmitarbeiter erheblich beschädigt hatte. Auch über den seltsamen Humor einzelner Metzger oder Kopfschlächter kursierten so manch abenteuerliche Geschichten.
Jetzt durfte ich mich also davon überzeugen ob diese Geschichten alle stimmen würden. Vorsichtshalber parkte ich an einem Donnerstag im Sommer meinen gelben Spitfire in der Metzgerstraße und nicht auf dem Gelände direkt vor der Bank.
Beim Betreten der Zweigstelle dachte ich eher an ein Krankenhaus, alle Mitarbeiter trugen lange weiße Kittel. Der immer gut gelaunte und freundliche Leiter, Herr Ofderdinger, führte mich durch die Zweigstelle und im Personalraum überreichte er mir einen sauberen weißen Kittel. Aufgrund meiner Leibesfülle musste ich das Sakko ausziehen, konnte den Kittel aber danach immer noch nicht richtig zumachen. Aber für einen Tag würde es schon gut gehen.
Dann fiel mir ein, dass ich mich in der Kantine in der Hauptstelle zum Mittagessen angemeldet hatte. Schließlich war es Donnerstag und da zauberten Frau Savelsberg und Frau Mager immer tolle Fritten mit köstlicher Fleischbeilage. An diesem Tag sollte es dazu ein Zigeunerschnitzel geben. Also rief ich dort an und ließ mir das Essen vom netten Bankboten Herrn Willms, der mittags jede Zweigstelle anfuhr, mitbringen. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr passieren, oder?
Da hatte ich aber nicht an die spezifische Kundschaft gedacht. Ein Kopfschlächter in voller Arbeitsmontur, mit blutgetränkter Arbeitsschürze betrat den Schalterraum und legte mir mit blutigen Händen Schecks und Bargeld in den Schlitz unter der Panzerglasscheibe. Beim Herausnehmen merkte ich, dass auch diese voller Blut waren und ein wenig tropften. Nur nicht zimperlich sein und keine Ekel zeigen, dachte ich, da muss ich jetzt durch. Freundlich bediente ich den Kunden und ging mir danach erstmal die Hände waschen. Doch das hätte ich mir sparen können, da stand schon das nächste Blutmonster am Tresen. Mittlerweile hatte ich auch den Sinn der weißen Kittels verstanden. Die Ärmel zeigten schon erste Blutabzeichen der Schlacht. Erst jetzt nahm ich den tierischen Geruch wahr, den offensichtlich die Bankkunden mitbrachten.
Nach einiger Zeit glaubte ich, den Geruch nach Fleisch, Tier, Blut und Tod fest in meiner Nase und meinen Klamotten aufgesaugt zu haben. Jetzt verstand ich auch, warum kein weiblicher Banklehrling in der Zweigstelle am Schlachthof eingesetzt wurde. Meinen Erinnerungen zu Folge geschah es einmal, dass Lehrling Vicki, ein zart gebautes junges Mädchen, sich aus Personalmangel doch bei Herrn Ofderdinger melden sollte und dort nach nur kurzer Zeit kollabierte.
Der Vormittag war überstanden, eine Mittagspause in der die Zweigstelle geschlossen wurde, gab es nicht. Dafür hatte man früher Feierabend und hatte die Möglichkeit im Personalraum in einer ruhigen Minute etwas zu essen und zu trinken, was natürlich direkt am Bankschalter verboten war. Aufgrund der blutigen Ereignisse und den penetranten Gerüchen war mir eigentlich die Vorfreude auf mein Zigeunerschnitzel vergangen, als der Bankbote Herr Willms mir das sorgfältig verpackte Essen aus seinem Transportkörbchen überreichte.
Meine Kollegen wünschten mir einen guten Appetit und schon saß ich an einem großen Holztisch vor dem Fenster mit freien Blick zum Hof. Der Geruch des Essens hatte keine Chance meine Nase zu erreichen, lediglich der Dampf des noch immer heißen Essens stieg auf und wurde von zahlreichen Fliegen bekämpft. War ein Zigeunerschnitzel schon immer so blutrot? Gerade als mir diese Frage durch den Kopf ging sah ich auf dem Hof einen Mitarbeiter des Schlachthofes mit einem kleinen Elektrotransporter mit Anhänger fahren. Zunächst konnte ich noch nicht erkennen woraus die leicht dampfende Ladung bestand. Doch spätestens als der Wagen direkt vor meinem Fenster stoppte und der Fahrer eine Zigarettenpause machte, drehte sich mir der Magen um. Auf dem Transporter lagen die Gedärme der zuvor geschlachteten Tiere. Die eklige Ladung ragte bergförmig über den Anhängerrand hinaus. Aus dem Anhängerboden lief Blut auf die Erde. Armeen von dicken Fleischfliegen starteten einen Angriff nach dem nächsten auf den Gedärmeberg.
Das war`s, ich konnte nicht mehr weiter essen. Hinzu kam der Geräuschpegel aus dem Schlachthofgebäude. Schweine quickten vor dem Todesstoss, Kühe muhten um ihr Leben und alles nur, um bei mir als Zigeunerschnitzel auf dem Teller zu landen.
Noch heute esse ich kein Zigeunerschnitzel mehr. Wenn andere dies tun habe ich sofort den Duft der Zweigstelle 1 in der Nase.
Doch auch nach meiner Mittagspause war der Horror noch nicht vorbei. Den erfahren Kassierer Herrn Oprei konnte diesbezüglich nichts mehr schocken. Als mich ein Metzger mit ein paar frischen Schweineaugen erschrecken wollte und mir diese in die Belegschleuse legte, zuckte nur ich zusammen. Ich war froh, dass der Metzger unter leichtem Gelächter diese nach kurzer Schockzeit wieder selber entfernte. Ja, so wurden Neulinge empfangen.
Einige Metzger, die sich bei Ihrer Arbeit verletzt hatten, trugen dicke, verschmierte, fettige Pflaster auf ihren Hand- und Fingerwunden. Das sah schon alles sehr widerlich aus. Einem Metzger fiel beim Durchschieben von Überweisungsträgern sein dickes verschmiertes Pflaster ab und landete zwischen den Überweisungen. Er wollte es nicht zurück haben, ich könnte es für ihn entsorgen.
Nach Dienstschluss war ich froh, den jetzt nicht mehr ganz so weißen, dafür aber durchgeschwitzten Kittel wieder abgeben zu dürfen.
Herr Ofderdinger bedankte sich bei mir für meine Unterstützung und wünschte mir einen schönen Feierabend und für das kommende Wochenende einen schnellen Freitag. Dass man Freitags nur Fisch essen sollte, bekam für mich jetzt eine neue Bedeutung.
So fuhr ich nach 16.00 Uhr mit meinem Spitfire offen Richtung Heimat. Ich hatte die Hoffnung, durch den Fahrtwind den aufgesaugten Schlachthofgeruch auf dem Weg verlieren zu können. Doch auch die überhöhte Geschwindigkeit auf der Jülicher Straße mit noch mehr Fahrtwind half mir nicht dabei. Alle Klamotten mussten gründlich gewaschen werden, selbst das Sakko, das ich nicht getragen hatte und nur im Personalraum auf dem Bügel hing, roch nach dem Erlebten. Es kam zusammen mit der Anzugshose in die Reinigung. Die Krawatte habe ich Tage später entsorgen müssen. Ich konnte den Duft direkt unter meiner Nase, selbst nach einer mehrtägigen Lüftung auf meinem Balkon, nicht mehr aushalten.
Außerdem hatte ich sie mir mit den ersten Stücken des Zigeunerschnitzels versaut. Ich führe dies dem einer Ohnmacht ähnlichen Zustand zu, der mich bei dem Gedärmeanblick fast überfallen hätte.
Zurück in der Hauptzentrale an der Theaterstraße gehörte ich jetzt auch zu der ausgewählten Mitarbeitergruppe mit Schlachthoferfahrung. Von diesem Zeitpunkt an durfte ich dann auch die Kollegen aus den neuen Lehrjahren mit Schlachthofgeschichten verunsichern und erschrecken.
Den Anderen blieben nur die Lehrlingsnormaloscherze : „Hol mal den Zinsfuss aus dem Keller!“, „Hast Du die Stornozange?“ oder „Gib mir bitte mal die Couponschere?“
Während meiner Lehrzeit wurde ich noch häufiger zur Zweigstelle Schlachthof geschickt und irgendwie hatte ich mich schnell an die etwas andere Zweigstelle gewöhnt und die optischen und akustischen Besonderheiten wurden langsam zur Normalität. Aus heutiger Sicht erfüllt es mich ein wenig mit Stolz, auf dieser besonderen wohl einzigartigen Bankzweigstelle gearbeitet zu haben.
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Uwe Reuters wurde 1960 in Aachen geboren. Nach einer Banklehre arbeitete er in seiner Freizeit als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Musikmagazinen und war in den 80ern und 90ern als Manager für verschiedene lokale und nationale Bands tätig. 1995 moderierte er für kurze Zeit die Musiksendung „Danger Zone“ bei Radio Euro. 1996 erschien sein erstes Buch „Easy Livin’” über die Band Uriah Heep, bis 2007 veröffentlichte er neun weitere Jahresbücher über Uriah Heep. Unter der Adresse futterfuerdieaachenerohren.blogspot.com schreibt er zahlreiche Berichte über die Aachener Schallplattengeschäfte von den 60er Jahren bis heute.
Seit 1996 führt Uwe Reuters in Burtscheid eine Anlage- und Vermögensberatungsfirma.
Tristan vom Wahn
(Montag, 05 November 2012 21:38)
Das Buch zum Thema “Schlachten”
BK
(Sonntag, 21 Februar 2016 03:45)
Sehr schön geschriebene Geschichte, musste herzhaft lachen…weiter so..