Aachen im August 1914

Begeisterung für den Krieg

 „Geht es wirklich gleich los mit dem Krieg?“ Frau von Verken schaut ängstlich aus dem Fenster auf die Wilhelmstraße. Dort zieht eine Kolonne Soldaten vorbei. „Geht es wirklich los?“ fragt sie sorgenvoll ihren Mann, der auch ans Fenster getreten ist, an diesem 4. August 1914. Schon seit Tagen beherrscht das Thema „Krieg“ die Schlagzeilen der Zeitungen. Am 28. Juni 1914 war in Sarajevo das österreichische Thronfolgerpaar ermordet worden. Seitdem lag Kriegsgefahr in der Luft. Aber die Bevölkerung war nicht von Panik erfasst worden, sondern es wurde spekuliert, wie es weiter gehen würde, nachdem Österreich am 28. Juli den Krieg an Serbien erklärt hatte: Was wird Deutschland tun? Steht es zu seiner Bündnispflicht? Dann muss es mit Österreich gegen Serbien zu Felde ziehen. Aber kommt es dann nicht zum Krieg mit Russland, nachdem der Zar den Serben Hilfe zugesagt hatte? Und wie wird sich Frankreich verhalten?

Dann war am 31. Juli in Deutschland der „Zustand drohender Kriegsgefahr“ verkündet worden. Die Grenze nach Vaals wurde durch eine schwere Kette gesperrt. Und als am 1. August Deutschland an Russland den Krieg erklärte, was die allgemeine Mobilmachung zur Folge hatte, war die Spannung kaum noch zu ertragen. Vor dem Elisenbrunnen kam es zu großen Menschenansammlungen, es formierten sich Umzüge, Fahnen wurden voran getragen und patriotische Lieder gesungen. Viele Aachener wurden vom Taumel der Begeisterung erfasst. Die allgemeine Meinung war, dass es ein kurzer Krieg, ähnlich wie der von 1870/71 sein werde.

„Es wird nicht lange dauern. Unsere Soldaten werden bald siegreich zurückkommen. Weihnachten sind wieder alle zu Hause.“ Das sagte auch Herr von Verken zuversichtlich zu seiner Frau, und er fuhr fort: „Unsere Jungs sind so begeistert, alle wollen dabei sein, wenn es darum geht, das Vaterland zu verteidigen. Vom Kaiser-Karl-Gymnasium hat sich fast die komplette Abschlussklasse freiwillig gemeldet. Sie wollen nicht warten bis sie das Abitur haben, denn sie fürchten, der Krieg könnte ohne sie gewonnen werden. Sogar der Rektor unserer Technischen Hochschule hat seine Studenten aufgerufen, sich dem Heer anzuschließen.“ Herr von Verken nimmt die Tageszeitung vom Tisch und liest vor: „Kommilitonen, die ihr noch nicht militärpflichtig seid, tragt euch ein zum freiwilligen Eintritt ins Heer! Die Liste liegt auf beim Kastellan im Hauptgebäude.“ „Und  hier“, er deutet auf einen anderen Artikel, „ist auch der Aufruf unseres Oberbürgermeisters Veltmann, der schreibt, dass der deutsche Kaiser das deutsche Volk zu den Waffen gerufen habe, und alle ihr Bestes geben müssten, um den Krieg zu einem guten Ende zu führen.“ Und voller Enthusiasmus fährt Herr von Verken fort: „ Das Vaterland ruft, wir sind bereit!“ „Aber was ist mit dem Sohn meiner Schwester? Er wird im nächsten Jahr sein Abitur machen, wird er auch dabei sein wollen?“ fragt Frau von Verken beunruhigt. „Alle aufrechten Männer wollen dem Ruf des Vaterlandes folgen, meine Liebe.“ „Aber er ist doch erst 17 Jahre alt, fast noch ein Kind.“ „Mach dir keine unnötigen Sorgen, unser Kaiser wird schon die richtigen Entscheidungen treffen. Es wird ein kurzes Scharmützel geben, ehe unser Neffe alt genug ist, wird der Krieg vorbei sein. Kommt, wir gehen unsere tapferen Helden, die unten vorbeimarschieren, begrüßen.“

Die Kinder, Josefine und Max, die ins Zimmer gestürmt sind, haben auch gehört, dass auf der Straße lebhaftes Treiben herrscht. Schon gestern hatten sie die großen blauen Plakate mit dem Landsturm-Aufruf gesehen, der Tausende Aachener veranlasste, sich beim Bezirkskommando zu melden.  Nur zu gerne wollen sie den Vorbeimarsch der Soldaten miterleben.  Die Mutter ordnet vor dem Spiegel in der Diele noch schnell ihre Frisur, dann  begibt sich die gesamte Familie auf die Straße. Dort haben sich schon viele andere Menschen versammelt. Hüte werden geschwenkt, Hochrufe ausgestoßen. Einige Frauen schenken Kaffee und kalte Getränke an die Vorbeimarschierenden aus, andere verteilen Kuchen oder Brote. Ein paar junge Mädchen werfen den Soldaten Blumen zu. Mancher Soldat steckt sich eine Blüte ins Knopfloch. Es wird gelacht und gescherzt. Es herrscht allgemeine Begeisterung. Es ist eine Stimmung, als ginge es zum Schützenfest. Am anderen Tag stand in Aachens Zeitung „Echo der Gegenwart“, dass die Wogen der Begeisterung für Kaiser und Reich „hoch aufwallten“.

Keiner der Anwesenden hatte nur im Entferntesten daran gedacht, dass der Krieg vier Jahre dauern und unermessliches Leid und Elend über die Menschheit bringen würde.

Die Familie von Verken, geht, nachdem die Soldaten vorbeigezogen sind, wieder ins Haus zurück. Die Mutter sieht ihren Sohn Max liebevoll an und sagt seufzend zu ihrem Mann: „Wie gut, dass er erst 16 Jahre alt ist, ihn nehmen sie noch nicht.“ Sie konnte  nicht voraussehen, dass er im Frühjahr 1918 noch eingezogen und bei Verdun fallen würde.

Von Aachen aus marschierten die deutschen Truppen am 4. August 1914 in Belgien ein. Das war gegen das Völkerrecht. Der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg rechtfertigte dieses Vorgehen mit dem Argument „Notwehr“, weil zu befürchten gewesen wäre, dass die Franzosen in „unsere Flanke am unteren Rhein“ eingefallen wären.

Der völkerrechtswidrige Einmarsch in Belgien und die damit verbundene Gefahr, dass deutsche Truppen die Kanalküste besetzen würden, veranlasste England dazu,  Deutschland den Krieg zu erklären. Auch bei den Waffenstillstandverhandlungen in Versailles 1918 und sogar noch auf der Konferenz von Jalta 1945  führte dieser Rechtsbruch zur Verurteilung Deutschlands durch die Siegermächte.

 


 

Teilen

Views: 517

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert