Die letzte Kneipe auf der Hörn
Die Wirtsleute, die insgesamt 39 Jahre hinter der Theke standen, können und wollen nicht mehr. Längst sind sie im Rentenalter, schon lange schuften sie mit kaputten Knochen. Sie braucht eine neue Hüfte und ein neues Knie, er ein neues Knie. Wenn sie alleine sind, gehen sie rückwärts, das ist leichter. Die BMW-Krankheit, sagt Mattschö. Sie trifft Bäcker, Metzger, Wirte. Früher war er mal Kampfsportler, fuhr Radrennen und sogar Formel 3, aber das sollen wir eigentlich nicht erwähnen.
Phia ist stolz auf die große, reichhaltige Speisekarte. Jeder bestätigt, dass sie das beste Steak der Stadt machte. Wie, das bleibt ihr Geheimnis. Vorher hatten sie eine Fußball-Kneipe auf dem Land, aber Phia wollte als eingefleischte Öcherin unbedingt zurück. Zufällig bot sich das Lokal an, wo früher mal „de Frau Timm“ waltete. Zuerst war es nur ein Vereinslokal, später musste man auch Essen anbieten, denn Getränke allein brachten es nicht mehr. Da blieben die Vereine aus.
Und dann entwickelte sich schleichend die schöne neue Gesellschaft der Schnäppchenjäger, die Vereinsamung, die mit der Flasche Bier vor den Fernseher führt. Ein wichtiger Einschnitt, sagt Phia, waren die neuen Ladenöffnungszeiten, da reichte es gerade noch, sich „e Hönnche of ene Härrek“ zu besorgen, bis das Programm anfing. Und in letzter Zeit wurde es sowieso immer weniger. Früher gab es mal vier Kneipen auf der Hörn, jetzt nichts mehr.
Die Stammgäste sind noch einmal gekommen an diesem letzten Abend, und es ist wie einst bei Mutter Mathilde: Mutter Phia hat gekocht, natürlich eigenhändig, wie immer in all den Jahren hier, es ist laut und fröhlich. Jeder kennt jeden. Wenn nicht, dauert es nicht lange. Viele Vereine sind da, von den Kampfsportlern der Post bis zu den Piloten des Käfer-Cabrio-Clubs. Natürlich auch die Bonneplöcker, die Phia ihren neuen Orden umhängen.
Nach zwei Stunden fallen die ersten Gläser runter, und ein Kenner der Szene stellt fest: Jetzt wird es gemütlich. Nach drei Stunden stimmt einer das erste Karnevalslied an, das ist natürlich der Hein Lindgens, nach eigener Aussage Dezernent für Personal, Organisation und Umtrunk. Hier ist er groß geworden. Hier im Haus? Nein, hier in der Kneipe. Er zeigt auf den Stuhl, wo der Nikolaus immer saß, wenn die Kinder der Hörn beschert wurden. Und neulich, als das Inventar unter den Hammer kam, hat er eine echte Reliquie erworben, einen riesigen Wandteller, der den Heiligen Drachentöter zeigt und aus dem legendären Walfisch stammt. Geschmacklos, aber schön. Wie das ganze Aachen-Gelsenkirchener Interieur.
Der zuständige Ratsherr Hubert Bruynswyck hat in diesem Raum nicht nur seine Sprechstunden abgehalten, der hat hier auch poussiert. Und die Bedienung ist die Frau vom Küster, denn hier ist alles in Gottes Hand. Nur bei der Büttenrede, die der Mann vom Cabrio-Club hält, muss Gott ab und zu weghören.
Irgendwann an diesem so traurigen wie lustigen Abend tritt dann nochmal der Hein Lindgens vor und rezitiert in schönstem Öcher Platt ein paar Gedichte von Will Hermanns, die er auf den Anlass zugeschnitten hat. Wir alten Hörner sind traurig, sagt er noch, aber die Hörn wird überleben. Und Phia än Mattschö auch.
Über der Tür hängt ein Schild: Unseres Hauses größte Ehr ist des Gastes Wiederkehr. Wiederkehren werden sie ja nun nicht mehr. Aber reden wird man noch lange von diesem ehrenwerten Haus und von diesem rauschenden Abschiedfest. Und wie so oft werden sie auch auf der Hörn viel zu spät merken, was man da verloren hat.
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Dr. Heinrich Schauerte, geboren 1946 in Aachen. Volksschule Hanbrucher Straße unter Lehrer Jers (der mit dem Holzbein und dem flinken Lineal). Abitur am KKG unter dem legendären Lehrer Emunds (der mit der Pimmelakei). „Wehrersatzdienst“ in Kölner Klapsmühle unter Oberschwester „Feldwebel“ Gertrud. Studium der Germanistik, Psychologie, Philosophie in Aachen. Promotion unter Prof. Schneider-„Schwerte“ (der mit dem Hakenkreuz).
Werbetexter, Pressesprecher, Journalist. Dichtungen aller Art.