Ich bin auch ein Mensch

Weihnachten hatte für mich schon lange alle Bedeutung verloren. Der Konsumrausch, den ich um mich herum sah, besonders in der Adventszeit, die immer bunter geschmückten Häuser, die immer weiter verlängerte Vorweihnachtszeit, das hatte doch nichts mehr mit dem ursprünglichen Sinn von Weihnachten zu tun. Wenigstens nicht für mich. Bis vor einem Jahr.

Ich unterhielt mich damals öfters mit einem jungen Mann, der obdachlos war. Er hatte mich zum ersten Mal angesprochen in der Ahornstraße, in der Nähe des Hörsaalgebäudes der RWTH. Er hatte mich, einen älteren Mann, gewählt, so sagte er, weil er keinen Studenten anpumpen wollte. Die hätten ja selbst nicht viel. Ich erwiderte darauf, dass er sich dann doch geirrt hatte, denn ich bin auch Student, ein Seniorstudent. Seitdem, wenn wir uns begegneten, begrüßte er mich immer mit den Worten: „Hallo, ich bin ein Bettler.“ Worauf ich antwortete: „Hallo, ich bin ein Student.“

Er erzählte über sein Leben, erkundigte sich nach meinem Studium. Wir redeten über dies und jenes und so kam das Gespräch auch auf Weihnachten. Wie es für ihn wäre, fragte ich, das Getümmel auf dem Weihnachtsmarkt. Das ganze sagte ihm nicht viel. Er bekam aber etwas mehr Spenden als in anderen Jahreszeiten, obwohl er auch vieles einkassieren musste an missbilligenden Bemerkungen und Blicken. Mehr als sonst.

„Ach wissen Sie“, sagte er, „Für mich ist Weihnachten, wenn jemand sieht, dass ich auch ein Mensch bin.“ Das verschlug mir die Sprache. Da hatte er doch mit einmal Weihnachten wieder einen Sinn gegeben. Den Anderen, wer immer er auch ist, als Mensch anerkennen.

Der junge Mann ist nicht mehr in Aachen, aber seine Worte hängen noch immer in der Luft. Nur hört sie keiner. Oder doch?

[Dezember 2014; ursprünglich geschrieben für das Projekt der VHS ‘Meine Stadt schreibt ein Buch’]


 

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