Unerwartete „Aachen-Erinnerungen“

Es war an einem Mittwoch- oder Donnerstagabend im April des Jahres 1993, im Odenwald, kurz vor 19 Uhr. Ich war an diesem Tag einer der letzten, die in der Verwaltung unseres großen Werkes noch am Schreibtisch saßen; wie das so ist, wenn man gerade erst von weiter her zugezogen und neu im Unternehmen ist.

Keine ungewohnte Situation für mich: als gebürtiger Ur-Aachener (Jahrgang 1940), der seine Heimatstadt im Alter von 21 Jahren verlassen hatte, war ich – beruflich bedingt – über Essen, Köln, Ostwestfalen, Schwarzwald, Allgäu, Rheinhessen und Hamburg jetzt, fast 53-jährig, in den Odenwald gekommen. Und die dortige Regionalzeitung hatte mich wenige Tage zuvor, im Zusammenhang mit einem aktuellen Bericht über das Werk, erstmals auch namentlich erwähnt.

Während ich über meinen Unterlagen brütete, klingelte das Telefon.

Bevor ich aber das nun folgende (und „folgenschwere“) Gespräch schildere, bitte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich meine damalige Situation noch einmal plastisch vor Augen zu führen: Die Büros waren um diese Stunde schon fast verwaist, ich war neu in der Gegend, kannte außerhalb des Unternehmens kaum jemanden. Anrufe geschäftlicher Art waren so spät am Abend normalerweise auch nicht mehr zu erwarten. Es musste wohl wer aus dem Werk selbst sein.

Ich nahm also die Pfeife aus dem Mund, den Hörer ab, und nannte kurz meinen Namen. Eine weibliche Stimme meldete sich. Und zwar wie folgt: „Margret Willer (5 Sekunden Pause), …geborene Rei-sen-bach …!“ (Wieder Stille) Etwas verblüfft ob dieses etwas ungewohnten Zusatzes antwortete ich, gedanklich immer noch halb beim Tagesgeschäft: „Frau Willer! Guten Abend. Bitte …?“ Meine Gesprächspartnerin fuhr daraufhin fort, jetzt erkennbar leicht verunsichert: „Entschuldigen Sie die späte Störung. Ich habe Ihren Namen in der Zeitung gelesen. Darf ich fragen …, stammen Sie vielleicht aus … Aachen …?“

Bum! Das Tagesgeschäft war weg! Verblüffung, Anspannung, Neugier, Heraufdämmern einer längst vergessen geglaubten Zeit! Und das alles in weniger als einer Sekunde! Ich antwortete ganz spontan, fast automatisch, mit seit Jahrzehnten mir nicht mehr geläufigen Worten: „Geboren und getauft!“

Jetzt stürzte quasi ein Wasserfall über mich hinweg: „Dann sind wir zusammen in die Handelsschule gegangen! Beim „Beaujean“, am Bergdriesch, gegenüber den Ursulinerinnen! 1959! Dein Name, vor allem zusammen mit dem Vornamen – das gibt es doch kein zweites Mal, habe ich meinem Mann gesagt. Ich bin die Margret vom Schreibwarengeschäft in derSandkaulstraße, ich saß hinten links von Dir. Erinnerst Du Dich …?“

Was? Wie? Wer …? Nein, ich musste mir zu meiner Schande gestehen: ich erinnerte mich nicht. Irgendwie peinlich. Aber die Dame ließ nicht locker, erinnerte mich an dieses und jenes, beschwor längst vergessene, ganz allmählich wiederkehrende Erinnerungen herauf.

Kein Zweifel, sie musste damals in meiner Klasse dabei gewesen sein. Aber an sie selbst – ich konnte mich bei bestem Willen nicht erinnern.

Nun muss ich dazu etwas „beichten“: Dieses eine Jahr Handelsschule, 1959/60, war für mich nur eine Art Überbrückungszeit gewesen; ungeliebt, aber klare Vorbedingung meines Vaters, ehe ich das von mir seit langem angestrebte Gesangsstudium hatte beginnen können. Darüber hinaus war ich im Schnitt drei Jahre älter als meine damaligen, überwiegend weiblichen Mitschülerinnen. Es gab somit – gegenseitig – keinerlei engere Freundschaften zu irgendwem; ich war einfach „zu alt“. Gleich nach Abschluss der Handelsschule verließ ich meine Heimatstadt zum Studium; erst nach Essen-Werden, später nach Köln. Und ich kehrte – bis zu dem hier geschilderten Erlebnis – in den folgenden 33 Jahren tatsächlich auch nicht wieder nach Aachen zurück. Sänger bin ich übrigens dann auch nicht geworden, aus kluger Einsicht in meine diesbezüglichen Erfolgsaussichten. Stattdessen machte ich in der Wirtschaft Karriere.

Aber zurück zu unserer Geschichte im Odenwald, im April des Jahres 1993.

Ich war dann doch auf meine „ehemalige Mitschülerin“ neugierig geworden. Zumal „Margret“ unbedingt darauf bestand, dass wir uns sehen und ich auch Kinder und Ehemann kennen lernen sollte. Da dieser aber beruflich gerade für ein paar Tage im Ausland weilte, schlug ich erst einmal ein „Rückerinnerungs“-Treffen auf quasi neutralem Boden vor, in einem auch mir schon bekannten, meist gut besuchten italienischen Restaurant. Spät in der Nacht telefonierte ich dann mit meiner lieben Frau im fernen Norddeutschland und berichtete von dem unerwarteten Erlebnis. Ihre Reaktion schwankte verständlicherweise zwischen neutralem „Mitgefühl“ und vorsichtiger, nicht allzu großer „Begeisterung.

Nun, zwei Tage später war es soweit. Pünktlich zu verabredeten Stunde betrat ich das Restaurant und – erschrak: Ungefähr zehn bis zwölf mir schon bekannte Gesichter hoben die Köpfe, unterbrachen jäh ihr Gespräch und grüßten mich mit stummem Kopfnicken von ihrem Tisch aus. Offensichtlich das monatliche Sekretärinnen-/Assistentinnen-Treffen, von dem man mir bereits berichtet hatte. Ausgerechnet heute! Na, das würde wohl – sobald „Margret“ auftauchte – viel Getuschel geben und am nächsten Tag schnell im gesamten Werk herum sein; das war mir klar. Und Margret kam.

Durch die Eingangs-Portiere kommend, steuerte ein blond gelockter, fröhlicher Bubikopf direkt auf mich zu; zielstrebig, mit strahlendem Lachen: „Ich habe Dich schon durch’s Fenster an Deinem Hinterkopf erkannt! Unverkennbar! Grüß Dich, mein lieber Alexander-Eduard!“ Ich war längst aufgestanden und – mehr als überrascht. Mir gegenüber stand eine sympathische, sehr jugendlich wirkende, gute Figur und Ausstrahlung zeigende Dame. Nur: ich – nein, ich konnte mich nicht im Mindesten an sie zurückerinnern! Nichts zu machen! Aber sei’s d’rum: es musste ja stimmen. Und so nahmen wir uns herzhaft in die Arme (sehr zur „Freude“, ja zum „Entzücken“ der benachbarten Sekretärinnen-Runde, wie Sie, liebe Leser, sich denken können) und verbrachten einen wunderschönen Abend in Rückblenden an „unser“ Aachen, an vertraute Plätze und Ecken, an das gemeinsame Jahr „beim Beaujean“ auf der Handelsschule, an unser beider spätere Lebensverläufe.

Margret hatte ihrerseits keinerlei Notwendigkeit gesehen, besonders leise zu sprechen; erst recht nicht, nachdem ich ihr von den unvorhergesehenen Mitgästen am Nachbartisch erzählt hatte. Eine Zeit lang legte sie sogar „extra en Schüpp darob“, hochdeutsch, aber im schönsten Aachener Singsang. Herrlich.

Beenden wir die Geschichte: Natürlich haben meine Frau und ich Margret in deren Haus im Odenwald besucht, ihren Mann und ihre Kinder kennen gelernt. Wir sind über die Jahre sogar enge Freunde geworden, waren und sind wechselseitig bei uns zu Gast. Und wir telefonieren häufig miteinander; obwohl ich inzwischen längst „im Ruhestand“ und in unser Haus an der Unterelbe zurückgekehrt bin.

Das Schönste und Bemerkenswerte aber ist, dass ich durch Margret – die immer noch gern Kurzbesuche nach Aachen unternimmt – auch meinerseits wieder stärkeres „Heimatgefühl“ entwickelt habe. Vor allem das Viertel rund um Dom und Rathaus, der Lousberg, das Ponttor, den Stadtteil Monschau lieben meine Frau und ich sehr. In wenigen Tagen – es ist jetzt kurz vor Nikolaus – brechen wir erneut von Norddeutschland aus auf, freuen uns schon sehr auf unser Wiedersehen mit Aachen. „Danke, läve Marjret, dat häste jut gemaaht!


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