Warten im Aachener Hauptbahnhof

Der Zug aus Köln, mit dem meine Gäste kommen sollen,  hat schon eine viertel Stunde Verspätung. Langsam werde ich ungeduldig.  Ich frage  einen Mann, auf dessen roten T-Shirt „Automatenservice“  steht, ob er mir Auskunft über den Verbleib geben kann.  Er verweist mich auf die Info-Säule. Sehr skeptisch drücke ich die Bedienungstaste. Eine menschliche Stimme bittet erst um ein wenig Geduld und fragt etwas später nach meinen Wünschen. Ich bin erstaunt, hatte ich doch erwartet, eine Automatenstimme gäbe mir verwirrende Anweisungen. Stattdessen wird meine Frage nach dem überfälligen Zug  freundlich beantwortet. Er sei zurzeit in Eschweiler,  würde aber sofort weiterfahren nach Aachen und in zwanzig Minuten eintreffen.

Nun, da ich also noch soviel Zeit habe, sehe ich mich nach einem Sitzplatz um. Aber Fehlanzeige! Die wenigen Plätze in der Bahnhofshalle sind alle besetzt. Nein, auf dem Fünfer-Block links vom Eingang ist noch ein Plätzchen frei.  Das heißt, eigentlich wären zwei frei, aber einer der Männer, die hier sitzen, hat eine prallvolle Einkaufstüte neben sich auf den Sitz gestellt, der andere einen dicken Rucksack. „Besser schlecht gesessen als gut gestanden“, denke ich und quetsche  mich zwischen Einkaufstasche und Rucksack.

Mein Nachbar isst ein Käsebrötchen  aus der Tüte. Er schiebt das Papier immer ein Stück zurück, damit das Brötchen jeweils ein Stück weit aus der Tüte heraus schaut, und er hinein beißen kann.  Der zweite Platzhalter hat einen breitkrempigen Schlapphut auf dem Kopf. Das Aussehen dieses Mannes lässt in mir die Frage aufkeimen, ob die Plastiktasche seine gesamte Habe enthält. Er hat seine Mahlzeit  gerade beendet, ein zerknülltes Papier liegt unter seinem Sitz. Ein rot bemützter Bahnbediensteter bleibt vor ihm stehen und redet ihn wenig respektvoll mit Opa an: „Na, Opa, dat Papier gehört aber in den Papierkorb, sonst kriegste Ärger und fliegst raus.“ Der Opa ist also ein alter Bekannter, der wahrscheinlich oft einen Teil des Tages hier verbringt. Statt eine Antwort zu geben, rülpst er mehrmals laut und ausdauernd.

Mein erster Gedanke ist, aufzustehen, denn der Schlapphut spricht jetzt auch noch undeutlich vor sich hin, hört sich wie Schimpfen an, aber ich kann kein Wort verstehen. Trotzdem bleibe ich sitzen.  Aus dieser Perspektive ist es besser möglich, die Rein- und Rausströmenden zu beobachten.

Vor den Fahrplänen steht ein Mann, der ein Schild vor sich hält. DSM steht darauf. Was mag das heißen? Ich versuche es mit „Du süße Maus“. Quatsch, korrigiere ich mich selbst, wenn er die Abzuholende kennt, braucht er kein Schild hochzuhalten. Aber es könnte ja eine Internetbekanntschaft sein. Die „Süße Maus“ hat wochenlang mit dem Schildträger gechattet,  und heute ist das erste „Date“. Da er nicht gerade attraktiv ist, wird die Enttäuschung groß sein, denke ich, aber die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.

Meine Aufmerksamkeit wird auf eine junge Frau gelenkt, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt, sie bleibt stehen, nimmt das Baby aus dem Wagen und lacht es an.  Das Kind quietscht vor Vergnügen. Mit Blick auf den Schlapphut stellt sich mir die bange Frage: Was wird aus dem glücklichen Baby werden? Ist es denkbar, dass es in fünfzig oder sechzig Jahren auch irgendwo in einer Bahnhofshalle sitzt und unverständliches Zeug redet?

Der eintreffende Zug enthebt mich aller philosophischen Gedanken. Ich umarme meine Gäste.

 


 

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