Heute steht dort ein Supermarkt

Vielleicht sollten die Gerichte rechte Straftäter einfach mal dazu verurteilen, sich täglich Biografien wie die der 80jährigen Miriam Doron anzuhören. Vor KKG-Schülern erzählte sie vor Jahren, als man sich für solche Themen noch interessierte, aus ihrem Leben.

Das auf der Trierer Straße in Brand begann. Damals hieß sie noch Marion Levano, aber nicht mal der Name ist ihr geblieben. So wenig wie die herrliche Jugendstil-Villa mit dem Obstgarten und den Stachelbeeren, an die sie sich heute noch erinnert, gleich schön im Sommer wie im Schnee. Wo heute ein Supermarkt steht.

Weniger gern erinnert sie sich an den Besuch der jüdischen Schule am Bergdriesch, wo sie von den anderen Schülern verspottet wurden: Juden raus, Juden nach Jerusalem. Die Ironie der Geschichte: da wollten sie ja hin, aber man ließ sie nicht. Nur den älteren Schwestern war es gelungen, ein Visum für Palästina zu bekommen.

Stattdessen musste die Familie in einem Land leben, in dem einen die beste Freundin plötzlich nicht mehr kannte und der 11jährige Bruder auf der Straße geschlagen wurde. Und dabei blieb es nicht. Ich bin in Angst aufgewachsen, sagt sie. Nie zu laut sprechen, immer vorsichtig sein, immer gut benehmen. Aber das half nichts. Am Morgen nach der „Kristallnacht“, sie wohnten inzwischen in der Wilhelmstraße, waren die Schaufenster ihres Schuhgeschäfts in der Adalbertstraße zertrümmert, die Ware lag auf der Straße. Tante und Onkel Katzenstein, die ebenfalls ein Schuhgeschäft dort hatten, waren abgeholt und ins KZ verschleppt worden. Dann hörten sie, dass die Synagoge brennt mitsamt den heiligen Schriften der Juden. Da war sie zehn Jahre alt und wusste, „das ist das Ende von unserem normalen Leben“. An dieser Stelle ist die 80jährige „etwas heiser“ und muss einen Schluck trinken.

Der Bruder kann noch sein Studium beenden und bereitet sich auf die Auswanderung vor, wird aber vorher abgeholt und kommt nach Dachau. Die Dänen bekommen ihn frei, und es gelingt ihm eine abenteuerliche Flucht über Schweden. Marion saß in Aachen und weiß heute nicht mehr, was sie getan hat, ein schwarzes Loch, vergessen, verdrängt, so wie Teile der Muttersprache, die für sie die Sprache der Nazis geworden sein muss. Die Lage war hoffnungslos, sie hatten kein Einkommen mehr, denn das Geschäft war „verkauft“ worden, „für gar nix“. Arisieren nannte man sowas. So wechselte ja auch der Kaufhof den Besitzer.

Die Familie wird in alle Winde zerstreut, sie fliehen, wohin sie können. Aber die Endstation heißt meistens Auschwitz. Marion kommt ganz alleine zu weitläufigen Verwandten nach Brüssel. Hört schreckliche Geschichten aus den KZ’s. Der Bruder, 14, 15 Jahre alt, wird bei Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik zu Tode geschunden. Nach der Besetzung Belgiens steht schon mal die Gestapo vor der Tür. Gestapo, sagt sie, war etwas Fürchterliches.

Es ist eine lange Geschichte. Je grauslicher es wird, um so sachlicher spricht Frau Doron. So kämpft sie auf ihre Art die Gespenster der Vergangenheit nieder. Was muss in ihr vorgehen, hier, in ihrer Heimatstadt?

Am Ende hat sie Glück, macht sich bei Kontrollen jünger, damit sie keinen Ausweis braucht, spricht Französisch, passt ihren Namen an und überlebt irgendwie in Brüssel. Schrecklich nur die ganze Wahrheit, die man jetzt allmählich erfährt. Schließlich schafft sie es nach Palästina, weil Kinder, die keine Angehörigen mehr haben, von den Engländern hereingelassen werden. Danach lebt sie in einem Kibbuz, studiert, bekommt Kinder und Enkel.

Nein, sie kann nicht sagen, dass alles vorbei ist. Mit der Zeit kommt es immer wieder hoch, wie bei vielen, die schwer traumatisiert der Hölle entronnen waren. Aber sie lebt jetzt „ein normales Leben, manchmal halt mit Bomben“.

Die Schüler, die gerade das Tagebuch der Anne Frank gelesen haben, fragen nach ihren damaligen Geburtstagsgeschenken. Marion erinnert sich an die Tränen der Mutter, weil sie keins mehr kaufen konnte. Da hat Onkel Katzenstein ein Puppenhaus gebaut, „und das werde ich nie vergessen“, so wie den Obstgarten in Brand. Ob sie hier noch einmal leben wolle? Nun, ihr Leben sei „zweimal durchgebrochen“ worden, und überhaupt das graue Wetter mit Regen und Kälte. Mehr sagt sie nicht.

Wurde sie geärgert von anderen Kindern? Ja, denen hatte man doch eingebleut, dass Juden Parasiten und Ungeziefer sind, eine echte Gehirnwäsche. Aber es gab da auch ihre Hausangestellte, von der die Polizei wissen wollte, ob im Haushalt auch ein Mann sei, wegen der „Rassenschande“. Die habe die Herren mit dem Besen aus der Tür gejagt.

Frau Doron hat ihren Sohn Gadi mitgebracht. Der sagt auf Englisch, man habe zu Hause niemals über diese Details gesprochen. „Was Sie jetzt hören, habe ich nie so gehört.“ Er habe sich mehr aus Büchern und Filmen informiert. „Ich fragte auch nicht“, besonders nicht nach den Emotionen. Zu viele hatten zu schreckliche Erinnerungen, man wollte das nicht aufwühlen. Viele aus den Lagern sprachen auch gar nicht mehr.

Und dann bedankt sich Miriam Doron aus Aachen, heute Jerusalem, bei den Schülern: „Ihr habt mir durch eure Fragen Gedanken eröffnet, die mir vorher nicht eingefallen sind. Das ist für mich auch sehr gut.“


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1 Antwort

  1. BREMEN, René H. sagt:

    Hallo Herr Schauerte,
    in den 70er Jahren hatte ich eine Frau Levano in meiner Kundschaft. Ihr Ehemann, Inhaber eines Reisebüros am Hauptbahnhof, war regelmäßig zu Gast in Aachener Schulen, um von seinen Erfahrungen im Dritten Reich zu erzählen. Könnte es da eine Verbindung zu Ihrer Frau Doron geben ?
    LG René H. Bremen (UNSER AACHEN-Autor)

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