Die Kinder der Juttastraße

Im vergangenen November kam leider nur eine Kindergruppe mit bunten Laternen an unsere Haustüre in Brand, um das Lied vom Heiligen Martin zu singen und als Belohnung Süßigkeiten zu erhalten. Ich fühlte mich wieder an meine eigene Kindheit in der Juttastraße in Burtscheid erinnert, da wir dort früher nach dem Martinsumzug auch durch die Nachbarschaft gezogen sind.

Am Wendeplatz. Wolfgang Sanders als Junge ganz rechts auf dem kleinen Fahrrad (1970).

Ende der 50-er Jahre wurde erstmals die Juttastraße im Süden von Burtscheid bezogen. Die Straße wurde genauso wie die nebenliegenden Mechtildisstraße und Petronellastraße nach einer Äbtissin des ehemaligen Burtscheider Zisterzienserinnenklosters benannt. Obwohl die Reihenhäuser damals mit ihren sandfarben verputzten Fassaden etwas trist und uniform aussahen, war es für die Bewohner eine schöne Heimat. In dieser Sackgasse konnten die Kinder wunderbar auf der Straße spielen, zumal die Familien damals bestenfalls ein Auto hatten und dies regelmäßig in die Garage stellten. Alle Bewohner der Straße kannten sich untereinander, denn sie waren mehr oder weniger gleichzeitig dort eingezogen.

Ich wurde 1965 als viertes Kind meiner Eltern im Luisenhospital geboren und durfte somit von Beginn meines Lebens an in unserem Reiheneckhaus wohnen. Die Häuser waren als Wohnungsbauprojekt für Familien von einer Wohnungsbaugesellschaft geplant und gebaut worden. Dementsprechend lebten dort viele Kinder und es war immer etwas los in der Juttastraße. Während die Väter ihren unterschiedlichen Berufen nachgingen, waren die Mütter fast alle hauptberuflich Hausfrau.

Die Kinder, die nicht regelmäßig auf die Straße zum Spielen kamen, waren in den Augen der Gleichaltrigen langweilige Stubenhocker. Da es davon zum Glück nur wenige Exemplare gab, waren meistens potentielle Spielkameraden auf der Straße. Der Haupttreffpunkt war der Wendeplatz am Ende der Sackgasse, die mit einem Fußweg an den Forster Weg angebunden ist. Dort konnten wir auf einer Wiese Fußball spielen oder den üblichen Blödsinn machen. Dahinter erstreckten sich bis zum nahen Gillesbachtal Wiesen, auf denen seinerzeit Ponys weideten, die sogenannten Kleibers Wiesen.

Sonntagsspaziergang in der Juttastraße mit meiner Schwester Gaby (1967).

Der Spielplatz befand sich ganz in der Nähe auf der anderen Seite des Branderhofer Weges oberhalb des Branderhofs und bestand hauptsächlich aus zwei großen Sandkästen und einem Stahlgerüst auf dem wir herumklettern konnten. Direkt gegenüber gab es noch den Club Mercator, ein Offizierscasino der in Aachen stationierten belgischen Truppen. Dieses Gelände haben wir gerne zum Cowboy-und-Indianer-Spielen genutzt. Dahinter befanden sich bis zum Beginn der eher tristen „Belgiersiedlung“ weitere Wiesen, die früher vom Branderhof zur Pferdehaltung genutzt wurden, aber im Laufe der Zeit bebaut worden sind.

Die Rahmenbedingungen für eine schöne Kindheit waren somit gegeben. Die sah damals natürlich etwas anders aus als heute, denn wir wurden, sobald wir das Haus verlassen hatten und nicht gerade zur Schule mussten, uns selbst und unserer Phantasie überlassen.  Für die Jungs bedeutete dies meist, am Gillesbach herumzustromern, Staudämme zu bauen und sich nasse Füße dabei zu holen. Gerne haben wir uns in der Böschung am Bach kleine Erdhöhlen gegraben, in denen man sich verstecken und lustige Streiche aushecken konnte.

Karneval in der Juttastraße, meine erste Verkleidung als Sarotti-Mohr (1968).

Später haben wir den Nellessenpark zu unserem Abenteuerspielplatz gemacht. Auf engstem Raum finden sich in diesem Gebiet zwischen Burtscheid, Lintert und Forst bis heute ganz unterschiedliche Grünstrukturen und die Beverbachaue. Der Bach mäandert dort abwechselnd durch Wald- und Wiesenbereiche und wirkt dadurch sehr naturbelassen. Einmal habe ich darin mehrere kleine Bachschmerlen gefangen, um sie eine Zeitlang im Aquarium zu betrachten und danach wieder wohlbehalten in ihren natürlichen Lebensraum zurückzubringen. Kurz vor dem Gut Schöntal befindet sich eine Wehranlage mit einem kleinen Wasserfall, unter dem wir uns an heißen Tagen gerne erfrischt haben. Nicht weit davon entspringt eine Quelle in einem Tümpel. An dieser Stelle gluckert das glasklare Wasser hervor, um sich danach mit dem Bach zu vereinigen und später in Richtung Tierpark Drimborner Wäldchen zu fließen.

Immer in Lederhose, hier mit meiner Schwester auf dem Moped (1972).

Der Spätsommer war für uns die schönste Zeit, da die Früchte auf den umliegenden Streuobstwiesen reif waren und wir uns auf einer Astgabel hoch im Baum den Bauch mit garantiert unbehandelten Birnen und Äpfeln vollschlagen konnten. Im Herbst gab es einen weiteren Höhepunkt, da sich auf Kleibers Wiesen auch ein großer Kastanienbaum befand. Die Maronen waren zwar oft noch in der stachelbewehrten Schale versteckt, doch schmeckten sie auf der blanken Elektroherdplatte geröstet, wie eine Delikatesse. Wir mussten allerdings beim Sammeln immer aufpassen, dass wir nicht vom Wiesenbesitzer erwischt wurden.

Da in einigen Gärten der Juttastraße auch Obst und Gemüse gezogen wurde,  galt es bei uns Kindern als Mutprobe, sich dort eine Kohlrabiknolle oder einen Apfel zu stibitzen. Wer sich traute, in der Dämmerung alle Gärten zu durchqueren und dabei alle Zäune unentdeckt zu überwinden, war ein Held. Eigentlich waren wir alle Helden, nur eben die Stubenhocker nicht. Nicht, dass es uns zuhause an Essen gemangelt hätte, es ging vielmehr darum, gemeinsam Abenteuer zu erleben und vor allem darum, sich dabei nicht erwischen zu lassen. Denn damals drohten für derartige Untaten drakonische Sanktionen in Form von deftigen Ohrfeigen oder als Höchststrafe der gefürchtete Stubenarrest.

Da es noch keine Computerspiele gab, haben wir viel gebastelt. Die Bastelanleitungen für Schiffe, Ballons, Flugzeuge usw. standen im Werkbuch für Jungen. Schier unerschöpflich waren die darin enthaltenen Bastelanregungen und Ideen. Die schwarzweißen Bildillustrationen des dicken Buchs stammten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und zeigten Kinder, die im Winter mit kurzen Hosen stolz ihre Bastelergebnisse präsentierten. Obwohl wir im Sommer noch die klassischen Lederhosen mit der obligatorischen Hirschapplikation auf dem Trägersteg trugen, sahen wir doch um einiges moderner aus, zumindest fühlten wir uns so. Der Spaß am Basteln war zeitlos und so bauten wir den Strandsegler oder den Heißluftballon nach. Währen sich mein Strandsegler tatsächlich vom Wind treiben ließ, ging der Ballon aus Seidenpapier vor dem Abheben in Flammen auf.

Beliebt waren auch die Flugzeugbausätze von Robbe oder Graupner; der kleine Uhu war für uns der König der Lüfte. Die Modellbausätze bestanden zum größten Teil aus leichten Balsaholzteilen, die sorgfältig mit Ponal verleimt werden mussten. Das Gerippe der Tragflächen wurde am Ende mit Seidenpapier bespannt und mit einem speziellen Spannlack behandelt. Die Segelflugzeuge konnten an einem Abhang per Hand auf die Reise geschickt oder mit einer Leine in hochgezogen werden. Nach jedem Flugtag auf der Wiese hinter dem Wendeplatz gab es etwas zu reparieren.

Mein Freund Horst hatte sogar einmal ein Flugzeug mit Verbrennungsmotor. Die Nachbildung eines Stuka (Sturzkampfflugzeug) aus dem 2.Weltkrieg musste er an einem Seil festhalten, um sie im Kreis mit einem Höllenlärm um sich herum fliegen zu lassen. Als das langweilig wurde, hat er sie bei einem anderen Kind gegen ein Bootsmodell eingetauscht. Ohnehin haben wir Spielzeug gerne getauscht, da wir nicht genug Geld hatten, um uns öfter neue Dinge zu kaufen.

Im Sommer durften die Kinder aus der Nachbarschaft im Belgierbad für 5 Franc Eintrittsgeld schwimmen gehen. Wir mussten daher nicht wie die anderen Aachener Kinder zum Hangeweiher laufen, sondern konnten uns auf dem Gelände, auf dem sich heute der Campingplatz befindet, in einem 25m-Becken erfrischen. Die belgischen Streitkräfte hatten dort  für ihre Angehörigen ein schönes Freibad mit Liegewiese und Kiosk betrieben. Als Jugendliche sind wir später auch gerne nachts über den Zaun geklettert, um vor dem Schlafengehen ins Wasser zu springen.

Die nahegelegene Wohnsiedlung der Belgier war allerdings eher trist, da die Armeeangehörigen als Mieter nichts in die Häuser und die zugehörigen Gärten investiert haben. Die meisten sprachen kein Deutsch und waren daher ziemlich isoliert. Da die belgischen Kinder in eine eigene Schule gingen, haben wir mit ihnen keine Freundschaften geschlossen. Nur zu Nikolaus waren wir etwas neidisch auf unsere Nachbarn, da an diesem Tag immer ein großer Armeehubschrauber zu den belgischen Kindern angeflogen kam, um ihnen Geschenke zu bringen. Spätestens wenn unsere Weihnachtsgeschenke unter dem mit Lametta reich geschmückten Weihnachtsbaum lagen, war dies vergessen.

Erfrischen konnten wir uns zu jeder Tages- und Nachtzeit mit leckerem Speiseeis, denn in unserer Straße wohnte und produzierte das legendäre Eismännchen. Der Mann hatte auch einen richtigen Namen, er hieß Willi Scheurer und fuhr jeden Tag mit einem zum Verkaufsstand umgebauten Moped von der Juttastraße nach Siegel, um dort unter einem bunten Sonnenschirm vier Sorten Eis zu verkaufen. Abends kam er dann bekleidet mit seinem weißen Kittel und einer weißen Schiebermütze von dort zurück und bog rasant mit seinem sonderbaren Gefährt vom Branderhofer Weg in die Sackgasse ein. Um dabei sportlich zu wirken, schob er den Unterkiefer etwas nach vorne.

Das Eis wurde im Keller des am Wendeplatz gelegenen Hauses von der Familie Scheurer produziert und in großen Tiefkühltruhen aufbewahrt. Die Eismaschinen liefen im Hochsommer Tag und Nacht, um Nachschub zu produzieren. Der Keller war über eine Außentreppe direkt erreichbar. Wir konnten von dort aus zusehen, wie das Erdbeer-, Vanille-, Zitronen- und Schokoladeneis mit riesigen löffelartigen Schabern aus der Maschine geholt wurde. Das Eis wurde auch direkt an der Kellertür verkauft und schmeckte himmlisch im knusprigen Hörnchen. Frische Milch und Joghurt brachte uns der Milchmann, Herr Hansen, mit seinem VW-Bulli täglich bis an die Haustür.

Schaufenster des Frisörsalons Malmes (Foto: H. Tschammer).

An der Kreuzung Adenauer Allee/ Branderhofer Weg befand sich das kleine Lebensmittelgeschäft der Familie Döring. Dort konnten wir uns Süßigkeiten kaufen, wenn wir denn Geld hatten. Da in der Gegend weiter Häuser gebaut wurden, haben wir in den Rohbauten die leeren Bierflaschen der Arbeiter gesammelt und das Pfand eingelöst. Direkt neben dem Tante-Emma-Laden lag der Frisörsalon Malmes. Da dort nicht nur Haare geschnitten, sondern auch alle möglichen Waren zum Kauf angeboten wurden, waren die beiden großen Schaufenster immer prall gefüllt, besonders mit Spielzeug. An den Scheiben haben wir uns oft die Nase platt gedrückt, um die neuen Matchboxautos zu bewundern und uns über die handgeschriebenen Preiskärtchen zu amüsieren. Wenn wir Szenen mit Frau Malmes mit ihrem ausgeprägten Öcher Singsang nachgespielt haben, haben wir Tränen gelacht.

Nicht weit davon entfernt lockte uns der Ziegelweiher an seine Ufer. Es gab dort immer etwas zu entdecken. Zeitig im Frühjahr kamen die Kröten in Unmengen zum Laichen an den kleinen See. Die kleinen Männchen klammerten sich an den dicken weiblichen Kröten fest und ließen sich nicht von ihrem arterhaltenden Geschäft ablenken. Im Sommer konnten wir Molche fangen und kleine Fische angeln, die natürlich alle später wieder ins Wasser geworfen wurden. Als dann in diesem Bereich weitere Reihenhäuser gebaut wurden, haben wir uns aus Holz und herbeigeschafften Styroporplatten wackelige Flösse gebaut und Seeschlachten ausgetragen. Ich musste mehr als einmal von meinem älteren Bruder nach Einbruch der Dunkelheit dort abgeholt werden, weil ich einfach die Zeit vergessen hatte. Eigentlich mussten wir abends nach Hause kommen, wenn die Straßenlaternen angehen, aber am Weiher gab es keine Beleuchtung und somit auch kein Zeitgefühl. Leider ist der kleine See im Zusammenhang mit der fortschreitenden Bebauung zum größten Teil zugeschüttet worden.

Der Spielplatz am Branderhof war unser Herrschaftsgebiet und wenn sich die Kinder aus der Belgiersiedlung dort breit machen wollten, wurden sie erbarmungslos vertrieben. Wir haben uns sogar gegenseitig mit Steinen beworfen. Ich kann mich an eine Schlacht erinnern, nach der die Straße Am Branderhof mit Steinen übersäht war und ein Streifenwagen der Polizei patrouillierte. Warum wir das damals gemacht haben, weiß ich bis heute nicht, aber zum Glück ist niemand dabei zu Schaden gekommen. Als ich jedoch einmal auf dem Spielplatz mit meinem Freund Horst aus Spaß eine kleine Schlacht mit halbierten Ziegelsteinen machte, bekam ich so ein Exemplar auf den Kopf und musste blutend nach Hause laufen. Da ich mich nicht traute, das Malheur zuzugeben, versteckte ich mich hinter einem Busch im Vorgarten. Dort haben mich dann meine Eltern gefunden. Die Narbe ist geblieben.

Blick von der Juttastraße auf Am Branderhof, rechts der Club Mercator, im Hintergrund die “Belgierhäuser” (Foto: H. Tschammer).

Später sollte ich mit Horst nicht mehr spielen, da er zwei Jahre älter ist als ich. Außerdem besuchte er die Hauptschule in Burtscheid und für meine Eltern stand fest, dass ich wie meine beiden älteren Brüder das Rhein-Maas-Gymnasium besuchen würde. Dass Horst kein geeigneter Umgang für mich sein sollte, habe ich nie akzeptiert und daher auch immer darauf bestanden, den Kontakt zu ihm zu halten. Schließlich wusste er aufgrund seines Altersvorsprungs über Dinge zu berichten, über die ich in der Schule wahrscheinlich noch lange nichts erfahren hätte. Es sollte sich zudem später bei mancher Gelegenheit als nützlich erweisen, einen Freund mit großem handwerklichem Geschick statt mit Lateinkenntnissen zu haben. Wir sind heute noch Freunde.

Wir Kinder haben uns untereinander selten geprügelt und wenn, dann waren die Auseinandersetzungen meist harmlos. Bei einer Gelegenheit wollten mich aber der etwas ältere und groß gewachsene Oliver (gesprochen: Uliwehr) verdreschen. Er hatte sich seinen kleinen, aber stämmigen Bruder Volker und zwei andere Kameraden als Unterstützung zur Seite gestellt. Als sie mich am Spielplatz stellen wollten, warnte ich sie eindringlich, dass ich von meiner nagelneuen Steinschleuder Gebrauch machen würde, wenn sie mich nicht in Ruhe ließen. Sie glaubten mir nicht und als Oliver immer weiter auf mich zukam, gab ich den zuvor angekündigten Schuss ab. Der runde Kieselstein traf den dunkelhaarigen Jungen direkt über der linken Augenbraue, die sofort dick anschwoll. Jetzt glaubten sie mir endlich und ließen von mir ab. Allerdings gab es anschließend Ärger mit meinen Eltern, die mir nach Bekanntwerden des Vorfalls die Zwille erst einmal für ein paar Wochen entzogen haben, obwohl ich sie doch von meinem ältesten Bruder als Belohnung für die 2 in der Mathearbeit erhalten hatte. Ich bin bis heute froh, dass nicht Ernsteres passiert ist, und habe nie mehr in meinem Leben mit irgendetwas auf Personen geschossen, Wasserpistolen und Bälle aller Art natürlich ausgenommen.

Auf der Terrasse (1969).

Über Schnee haben wir uns in jedem Winter sehr gefreut. Schneemänner und Iglus bauen, Schneeballschlachten schlagen, sich gegenseitig einseifen und natürlich mit dem Schlitten fahren. Der beste Ort zum Rodeln war der „Idiotenhügel“, wie der Elleterberg in der Nähe der Pionierquelle genannt wurde. Allerdings musste man erst einmal dorthin laufen und später mit nassen Klamotten den Schlitten wieder zurückziehen. Trotzdem hat das einen Riesenspaß und mächtig Appetit auf gutes Essen gemacht. Beliebt war auch, mit Gleitschuhen den kleinen Abhang am Branderhofer Weg Ecke Wilhelm-Pitz-Weg, genannt die „Kulle“, hinunter zu rutschen. Einmal bin ich beim Rodeln am Hang zum Ludwig-Kuhnen-Stadion im Gillesbach gelandet, der Wintersport war damit an diesem Tag für mich beendet.

Wenn das Wetter so richtig fies war, mussten wir drinnen spielen. Als wir noch klein waren, wurde die Legotonne ausgeschüttet und einfach ausprobiert, was gut zusammenpasst. Mit naturgetreu nachgebildeten Plastilinfiguren von Timpo-Toys, Playmobil gab es zu der Zeit noch nicht, spielten wir oft stundenlang Indianerüberfälle und den amerikanischen Bürgerkrieg nach. Ansonsten drehten die Rennwagen auf der Carrera- oder der Fallerbahn im Dauereinsatz ihre rasanten Schleifen und Loopings. Dabei wurden die Handregler und der Trafo manchmal so heiß, dass wir sie in den Kühlschrank legen mussten, damit sie nicht durchbrennen und wir möglichst schnell weiter damit spielen konnten. Bei meinem Freund Frank wurden wir manchmal tagelang in einem Mansardenzimmer von einer riesigen Märklineisenbahn in ihren Bann gezogen. Modellbausätze von Revell und Airfix waren ebenfalls  schwer angesagt. Meist wurden Militärflugzeugmodelle zusammengesetzt und liebevoll bis ins kleinste Detail bemalt.

Irgendwann wurde in Amerika das Skateboard erfunden. Da wir bis dahin nur einfache Rollschuhe hatten, wurde kurzerhand ein Brett darauf befestigt, fertig war das preiswerte Skateboard. Laut rasselnd sind wir mit den Rollbrettern den Buschhäuserweg hinabgefahren, bis uns der Besitzer des Eckhauses wegen der Lärmbelästigung mit einer Mistgabel in der Hand verjagt hat. Zum Glück gab es auch andere abschüssige Straßen in der Nähe.

Natürlich sind wir alle gerne mit dem Fahrrad gefahren, meist ältere Modelle, die bestenfalls mit einer Torpedo-Dreigangschaltung ausgestattet waren. An der Gabel wurden Spielkarten mit Wäscheklammern so befestigt, dass sie von den Speichen angeschlagen wurden, um so ein Motorengeräusch zu simulieren.  Das einzige Fahrrad, das ich als Kind neu zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, wurde mir später vor dem Pfarrheim während eines Bastelkurses in der Zeise gestohlen. Es war ein knallgelbes 24-er Jungenrad vom Radgeschäft Stollenwerk am Adalbertsteinweg.

In den Sommerferien wurden von der Pfarre St. Michael die Ferienspiele für alle Kinder der Gemeinde organisiert, da die meisten Familien nicht genug Geld hatten, um länger in Urlaub zu fahren. Mit einem großen roten Reisebus von Lauscher wurden wir täglich auf Höhe des Spielplatzes am Branderhofer Weg aufgelesen und mit den anderen Kindern in den Öcher Bösch gebracht, wo wir dann in Gruppen Schnitzeljagd oder Räuber und Gendarm spielen durften. Unser Pfarrer Hugo Bauermann ist immer mitgefahren und hat am Sammelpunkt auf unsere Rucksäckchen aufgepasst, obwohl darin meist nur ein Butterbrot und eine kleine Trinkflasche waren. Die Trinkflasche konnten wir zwischendurch an der Pionierquelle mit kühlem Wasser auffüllen. Der Pastor kannte jedes Kind seiner Pfarre mit Namen und war für uns immer sehr präsent. Ich bin davon überzeugt, dass er mit dieser zugewandten Art mehr Herzen seiner jungen Gemeindemitglieder gewonnen hat, als mit seinen Predigten. Jedenfalls wird dieser Diener Gottes bei allen, die ihn gekannt haben, für immer ein gutes Andenken erhalten.

Wir haben uns noch viele andere Aktivitäten ausgedacht und so gemeinsam eine schöne Kindheit verbracht. Gerne erinnere ich mich an diese Zeit zurück und frage mich, was aus meinen Nachbarskindern, die ich aus den Augen verloren habe, geworden ist. Die meisten leben heute irgendwo mit ihren Familien und haben selbst schon erwachsene Kinder. Manche von Ihnen weilen nicht mehr unter uns, sind bei Unfällen ums Leben gekommen oder an Krankheiten verstorben, so wie meine Schwester im vorletzten Herbst. Von der Elterngeneration sind schon viele von uns gegangen, so dass in einigen Häusern der Juttastraße wieder junge Familien einziehen konnten. Deren Kindern wünsche ich, dass sie heute dort eine genauso schöne Kindheit wie wir in den Sechziger- und Siebzigerjahren verbringen können.

Vielleicht ziehen sie dann im kommenden November wieder mit ihren schönen Laternen von Haus zu Haus, um über die Geschichte von Sankt Martin und dessen Bereitschaft zu teilen zu singen.

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10 Antworten

  1. Hanne Follmer sagt:

    Wunderbar! Genau so war unsere Kindheit! Wir bauten Staudämme am Beverbach, fuhren Schlitten und Gleitschuh auf der Butterwiese (am Colynshof) und auf der Sternwiese (Hasselholz), fuhren mit unseren Hudora-Rollschuhen die Straße rauf und runter. Mein Bruder baute Modellflugzeuge, die in seinem Zimmer an der Decke hingen. Und auch die Ferienspiele mit Pastor Baurmann werden mir unvergesslich bleiben.

  2. Rudolf Kowalski sagt:

    Hallo Wolfgang,
    ich danke dir für das Eintauchen in die Kindheit. Ich wohnte in der Jutta 32. Meine Erlebnisse sind 2-geteilt: bis zum Alter von 10 leben wir bei der Berverau. Die Beljern bekamen 2 mal im Jahr neue Spielsachen und wir sammelten dann ein, was achtlos draußen liegen blieb. Gespielt habe ich manchmal mit denen, mein Vater sprach gut Französisch, es gab schon Kontakte. … Wir bewegten uns insgesamt frei. Ich half viel beim Bauern Peters. Zog allein oder mit anderen Jungs durch Wald Feld und Wiesen. Ich lernte aus nix was zu machen, frickelte an allem herum, zog durch Baustellen, saß gerne auf dem Dach hinter dem Schornstein und konnte mich an Aachen nicht satt sehen. Ich lernte durch zuschauen und ausprobieren. Wenn nur die Schule mein Werden nicht dauernd durch Unterricht gestört hätte. Wenn nix lief, klingelten wir beim Hemul (Helmut) und sagten: der Juppi hat gesagt, du kannst gar keine Fritten machen. Nach 2 Stunden bekamen wir dann unsere Fritten rausgereicht. Der Milchfranz hat diese neuen Milchschläuche angepriesen und sagt: die kannste aus dem Fenster werfen, die jehen nich kapott. Juppi hat das gleich vom oberen Treppenfenster aus getestet. Paaf! Frag ihn mal.
    Wo waren die Mädchen? Dorotte (Dorothe) kam raus zum “wie viel Schritte darf ich gehen” und zum Hüpf- und Seilspiel. Mit Biene spielte ich im Garten Krocket, aber zum Baumlager, Staudammbau oder zum Nägel grade klopfen, nahm ich sie nicht mit- was mir nachträglich leid tut, denn die war ganz ok. Steffi lief mir immer mal wieder über den Weg, war gut mit ihr zu reden. Aber ansonsten blieben die Mädchen nur ums Haus.
    Ich denke, meine Kindheit war reich, ich fühle mich beschenkt.
    Rudolf Kowalski

  3. Sandra Groschke sagt:

    Danke, lieber Wolfgang!!!
    – für den Tipp
    – für die Erinnerungen, die dein Beitrag bei mir wieder hervorgerufen hat!!!!

  4. Urban Dick sagt:

    schlicht und einfach Klasse der Artikel. Es ist als wäre man dabei gewesen. Schreib mehr !

    • Wolfgang Sanders sagt:

      Danke für die positive Rückmeldung! Ich freue mich, wenn ich etwas von der Atmosphäre dieser Zeit übermitteln konnte.

  5. Johannes Lange sagt:

    Hallo Herr Sanders,
    durch Zufall bin ich auf Ihren Bericht gestoßen und fand ihn sehr spannend zu lesen. Ich gehöre zu der “neuen” Generation in der Juttastraße mit Kindern und sehe dass sich gerade ganz viele Dinge wiederholen. Es sind wieder viele Kinder auf der Straße und im Wendekreis. Es wird Fußball und Hockey gespielt, sie fahren mit verschiedensten Gefährten durch die Gegend. Der Gillesbach hat immer noch eine magische Anziehungskraft…
    Danke für den schönen Bericht und die alten Bilder – es ist schon spannend, wie es hier früher aussah.
    Beste Grüße
    Johannes

  6. Dagmar sagt:

    Lieber Wolfgang,
    danke für den Bericht – der mich jedoch sehr traurig zurückließ, denn Gaby ist tot. Wir waren Schulfreundinnen und hatten uns aus den Augen verloren. Aus irgendeinem Grund habe ich gestern Abend beschlossen, im Internet nach ihr zu suchen und fand Deinen wunderbaren Artikel (ja, als wir uns kannten warst Du noch sehr klein…). Mein tief empfundenes Beileid an Dich und Deine Familie. Vergessen habe ich Gaby nie….

  7. Felix Olion sagt:

    Hallo Wolfgang (Pieper)
    Dein Bericht über die alte Juttastraße und ihre Bewohner hat alte Erinnerungen geweckt an den Blödsinn den wir in unseren Kindertagen aber auch im frühen Jugendalter gemacht haben. Wir sind mit unseren Mofas, die meistens frisiert waren, solange durch die Straße gerast bis uns Elternteile hinterherliefen und uns am liebsten vom “Bock” gehauen hätten.
    Nachtwanderungen beim Zelten im Garten gehörten zur Selbstverständlichkeit und es wurde so mancher Zaun überwunden.
    Später haben wir alle CB-Funkgeräte gehabt und bis in den späten Abend miteinander gequatscht.
    Das waren tolle Zeiten die man nicht vergisst.

  8. sigi p. sagt:

    jaja, die Mofas… für mich war das das Mittel für ö.f. oder d.u.

  9. R.v. Schwartzenberg sagt:

    Vielen Dank, lieber Wolfgang, für diese Zeitreise in unsere Kindheit. Dein sehr persönlicher Text hat auch bei uns vielfältige Erinnerungen hervorgeholt. Der straßeneigene Martinszug, bei dem wir hinter Frau Dreeßen und ihrem Akkordeon herliefen bis zum Feuer auf der Wiese am Wendeplatz. Der Milchmann Hansen in seinem grauen Kittel, der uns Kinder mit sehr seltsamen Namen, z.B. Clementine“ anredete. Der Bäcker Kamenski, der frühmorgens die Stoffbeutel an den Haustüren mit Brötchen füllte und nachmittags Streuselkuchen aus dem Kofferraum seines grünen Kombis verkaufte.

    Ein sehr prägender Teil der Juttastraßenkindheit war tatsächlich das viele Draußensein, das gemeinsame Umherstreifen in den umgebenden Wiesen und am Gillesbach. Diese Unbeschwertheit und Freiheit war ein guter Gegenpol zu der verschlossenen Atmosphäre, die in den Familien der 60er und 70er Jahren teilweise herrschte. Auch in der Juttastraße gingen die Holzrolläden meist schon in den frühen Abendstunden herunter.

    Schön zu wissen, dass in der Juttastraße heute wieder viele Kinder wohnen und die Straße und die Häuser mit Leben füllen.

    Klaus, Irmgard und Rita
    ( früher Jutta 22, heute Pinneberg, Remagen und Köln)

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