Fußweh nach einem Zahnarztbesuch

Die folgende Geschichte hat sich in den achtziger Jahren ereignet, obwohl diese Zeitangabe nicht groß von Belang ist.

Mein Onkel Max sitzt an einem Vormittag im Behandlungsstuhl seines Zahnarztes in der Oppenhoffallee. Die von Zahnarzt Salzmann verabreichte Zahnbetäubung wirkt und für den Schmerzen verursachenden Backenzahn haben offensichtlich die letzten Sekunden geschlagen. Mit einem vorsichtigen Ruck zieht Salzmann den Übeltäter und hält ihn, wie eine Trophäe, vor Onkel Max Gesicht.

Onkel Max, noch leicht benommen, ist erleichtert und tritt wenig später den langen Heimweg in Richtung Morillenhang an. Doch schon nach wenigen hundert Metern verspürt er einen unangenehmen Druck an und in beiden Füßen, der mit jedem weiteren Schritt zum stechenden Schmerz wird. Doch Onkel Max ist tapfer, Schritt für Schritt hat er die Normaluhr erreicht und den Bahnhof anvisiert. Dort angekommen, muss er erst mal auf dem Bahnhofsvorplatz auf einer Bank Platz nehmen. Zunächst blickt er auf die am Taxistand auf Fahrgäste wartenden Droschken und dann fällt sein Blick auf seine Schuhe. Seine Schmerzen kommen von den neuen Lederschuhen, die er sich tags zuvor gekauft hatte. Da die Schuhe noch eingelaufen werden müssen, hat die Heimfahrt mit einem Taxi keine Chance, und Onkel Max steht auf und geht weiter in Richtung Boxgraben. Unterwegs werden die Schmerzen immer größer und er muss sogar seinen Gang ändern, was irgendwie merkwürdig aussieht. An der Fußgängerampel an der Kreuzung zur Südstraße braucht Onkel Max Hilfe. Mit beiden Armen umklammert er den Ampelmast, um so etwas Entlastung und Linderung in seinen Füßen zu erhalten. Eine neben ihm wartende Passantin spricht ihn an und erkundigt sich, ob sie helfen könnte. Onkel Max klärt die freundliche Frau auf und erklimmt, weiter humpelnd, den Boxgraben in Richtung Schanz. Als er am Luisenhospital vorbeikommt, überlegt er sogar kurz, dort um medizinische Hilfe zu bitten. Jetzt ist jeder Schritt eine Qual mit immer stärker werdenden Schmerzen. Immer wieder beschäftigt ihn die Frage: „Warum haben mir die neuen Schuhe nicht auf dem Hinweg zum Zahnarzt weh getan?“

Er findet jedoch keine Antwort auf diese bohrende Frage. An den gezogenen Backenzahn und die nachlassende Betäubung denkt Onkel Max schon nicht mehr. Noch bevor die Schanz erreicht ist, muss Onkel Max immer wieder stehenbleiben und für kurzfristige Entlastung sorgen. Am liebsten würde er die Schuhe ausziehen und auf Socken weitergehen, doch der einsetzende Regen hindert ihn daran. Natürlich hat Onkel Max auch keinen Schirm dabei, den er jetzt so dringend bräuchte.

Also weiter von der Schanz über die Lütticher Straße bis zur Einmündung Sanatoriumstraße. Vorbei am Franziskus-Krankenhaus geht es erstmals bergab und seine Füße danken es mit Schmerzen an anderen Stellen. Die letzten hundert Meter, links ab in den Morillenhang, vergehen für Onkel Max im Zeitlupentempo. Das Ziel, sein Haus, rückt langsam näher, doch jeder Schritt ist eine äußerst schmerzhafte Tortur. Völlig entkräftet erreicht er die Haustür und mit letzter Kraft schließt er die Haustüre auf. Dann, kurz vor dem Zusammenklappen, entledigt er sich vorsichtig seines Schuhwerks und humpelt geschwächt, aber glücklich darüber, endlich wieder zu Hause zu sein, in das Wohnzimmer, wo seine Frau ihn bereits erwartet. Sie führt die Abgeschlagenheit ihres Mannes und das desolate Bild, das ihr Mann bietet, unvermittelt auf den Zahnarztbesuch zurück. Sie drückt zunächst ihr Mitgefühl aus und spendet Trost. Im bequemen Sessel ausruhend, erzählt Onkel Max von seinem Heimweg und seinen neuen Schuhen, die er wohl nie mehr anziehen wird. Dann versorgt seine Frau mit Puder und Pflaster die lädierten Füße. Kurz darauf schläft Onkel Max im Sessel ein, während seine Frau sich um das Mittagessen kümmert.

Nach dem Essen hat sich Onkel Max etwas erholt und seine Frau erinnert ihn daran, mit ihr zusammen noch zum Einkaufen zu fahren. Da seine Frau keinen Führerschein hat, muss er wohl doch wieder raus. Er wählt seine bequemsten Schuhe und mit einem langen Einkaufszettel gehen beide in Richtung Garage. Das Garagentor macht Onkel Max mit einem gekonnten Schwung auf und der Blick fällt ins Leere. „Das Auto ist weg, gestohlen, wir müssen die Polizei anrufen“, sind Onkel Max erste Worte. Seine Frau will wissen: „Hast Du den Wagen denn nach Deinem Zahnarztbesuch nicht wieder zurück in die Garage gestellt?“

Und nach dieser Frage ist Onkel Max alles klar. Erst jetzt erinnert er sich daran, dass er mit dem Auto zum Zahnarzt gefahren war und diesen Umstand, vielleicht aufgrund der Betäubung, nach der Behandlung wieder vergessen hat. Deswegen nur hatten ihm auch seine neuen Schuhe auf seinem mühsamen Rückweg so starke Schmerzen bereiteten können!

So blieb Onkel Max nichts anderes übrig, als zu Fuß, zusammen mit seiner Frau, den langen Weg zur Oppenhoffallee zurückzugehen, um dort das geparkte Auto abzuholen, das zum Einkauf so dringend benötigt wird. Während der langen Wegstrecke beschäftigte Onkel Max intensiv eine neue Frage: „Wo habe ich denn an diesem Vormittag mein Auto geparkt?“


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1 Antwort

  1. Michael Reinwald sagt:

    So kann es einem Ergehen. Ist ja nicht Schlimm, aber die Geschichte ist toll.

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