Gevatter Natter
Ein Märchen…
An einem heißen Augusttag saß der Dichter Fred Federtraum auf seiner Lieblingsbank im Kaiser-Friedrich-Park am Hangeweiher und strickte Ringelsocken. So kann man ihn öfters sehen. Nadelklappernd träumt er mit offenen Augen und denkt sich Geschichten aus. Dabei verstrickt er lauter Wollreste, die die Nachbarsfrauen ihm bringen. Nie sehen zwei Socken gleich aus, weil er die verschiedenen Knäuel wahllos aneinander reiht, aber sie sind prächtig kunterbunt. Beim Weihnachtsbasar des Kindergartens in seinem Wohnbezirk, für den er sie jedes Jahr spendet, finden seine Kunstwerke stets reißenden Absatz.
Durch die Wolle ist Fred Federtraum immer bestens informiert über das, was sich in seiner Nachbarschaft tut – und nicht nur dort, denn inzwischen hat es sich herumgesprochen und auch andere Frauen aus dem Viertel bringen ihm ihre Wolle. An diesem Morgen stand Frau Pankeponk mit dunkelbraunen und flaschengrünen Knäueln vor seiner Tür: „Ich habe für meinen Mann einen Pullover zu Weihnachten gestrickt. Im Advent kommt man vor lauter Einkaufen, Putzen, Geschenke einpacken, Plätzchen- und Kuchenbacken nicht dazu.“ Der Apotheker erhält also Heilig Abend bei der Bescherung einen Pullover, dachte der Dichter. Da fiel ihm plötzlich ein: Höchste Zeit, sich eine Weihnachtsgeschichte auszudenken. Ende August müsste sie der Aachener Zeitung vorliegen, dann würde bereits die Festtagsbeilage geplant. Der Dichter klapperte mit den Nadeln und grübelte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, die Blätter des Schulheftes, auf die er seine Einfälle schreiben wollte, um sie später in den Computer einzugeben, waren auch am Abend noch weiß und leer.
Am zweiten Tag ging es nicht besser. Fred Federtraum, wiederum auf seiner Bank am Hangeweiher sitzend, knotete fliederfarbene Wolle an. Die hatte er von Fräulein Fröhlich, der Kindergartenleiterin. Seitdem ihr die fliederfarbene Katze Flora zugelaufen war, trug sie nur noch fliederfarbene Pullover, Blusen, Hosen – alles passend zu ihrem Haustier. Der Dichter strickte emsig und überlegte. Um in Weihnachtsstimmung zu kommen, stellte er sich eine weißverschneite Landschaft vor: Wirbelnde Flocken, dicke Schneepolster auf den Tannen, ein zugefrorener Hangeweiher. Auf einmal kam durch den Kaiser-Friedrich-Park, gezogen von zwei Schimmeln, glöckchenbimmelnd ein Schlitten. Darin saß der Weihnachtsmann, neben sich einen riesengroßen Sack voller Geschenke. Das Gefährt hielt am See. Plötzlich zog der Weihnachtsmann seine Stiefel aus, warf seinen roten, mit weißem Pelz besetzten Mantel ab. Darunter trug er eine rote Badehose mit weißem Pelz an Taillenbund und Beinabschluss. Kopfüber stürzte der Nikolaus sich an einer nicht zugefrorenen Stelle ins Wasser, was einem normalen Sterblichen verboten ist – aber sicher nicht dem Weihnachtsmann. Das Loch im Eis wurde größer, breitete sich über den ganzen See aus. Der Schnee tröpfelte tauend von den Tannen am Ufer. Der Heilige Mann schwamm prustend, seine rote Zipfelmütze leuchtete auf der silbernen Wasserfläche.
Der Dichter schüttelte missmutig den Kopf. Bei August-Sonnenglut, Gewitterschwüle, Grillenzirpen, bringe ich keine Weihnachtsgeschichte zu Papier, dachte er. Vor lauter Grübeln hatte er weiter und immer weiter gestrickt und dabei die Ferse vergessen. Das, was das Bein einer Socke werden sollte, war ein einmeterzweiundachtzig langer Schlauch geworden. Abends zu Hause holte Fred Federtraum alte Zeitungen, riss Seite um Seite in kleine Fetzen, band das geringelte Etwas an einer Seite zu, füllte es mit Papierschnitzeln, verschnürte auch das andere Ende, nähte zwei Knöpfe als Augen auf – fertig war die Schlange, die er am nächsten Tag mit zum Hangeweiher nahm und neben sich auf die Bank legte. „Fröhliche Weihnachten“, sagte plötzlich eine Stimme. „Fröhliche Weihnachten“, erwiderte der Dichter zerstreut. Nach einer Weile wurde er nachdenklich. Erstens, weil ihm jemand mitten im Sommer ‚Fröhliche Weihnachten’ wünschte, zweitens weil dieser Jemand eine Schlange war, die er aus Wollresten gestrickt hatte. „Ich bin Ringel Natter“, erklärte das Tier. „Ringel ist der Vorname, Natter der Nachname. Man nennt mich Gevatter Natter, aber du bist mein Freund und darfst Ringel zu mir sagen.“ „Fr.. Fred Federtraum“, stellte der Dichter sich total verblüfft stotternd vor.
„Komm mit“, forderte die Schlange ihn auf. „Ich will dich in Weihnachtsstimmung versetzen.“ Gevatter Natter kroch über den Weg am See entlang, durch das Park-Eingangstor raus, glitt den Bürgersteig der Goethestraße entlang. Fred Federtraum folgte hinterher. „Wir sollten den Bus nehmen“, schlug die Schlange vor, „denn unser Weg ist weit.“ Die Menschen in der Linie 2 schauten den Mann, der die Schlange jetzt um seinen Hals geschlungen trug, neugierig an. Am Bushof stiegen die beiden in die Sieben um, fuhren weiter bis Süsterfeld und gingen zu Fuß von der Haltestelle die paar Schritte zur Schokoladenfabrik. In einer Halle wickelten fleißige Frauen Schokoladenfiguren in buntes Papier – fertig waren die Weihnachtsmänner.
„Guten Tag, Gevatter Natter“, riefen die Arbeiterinnen. Das Kriechtier rollte sich behaglich zusammen und ließ sich von den Frauen streicheln. Fred Federtraum betrachtete die auf einem Fließband vorbeiziehenden Nikoläuse. Aus den Lautsprechern ertönte Musik, ziemlich laut, um das Klack-Klack der Maschinen zu übertönen. Die Frauen trällerten mit, von Palmen an weißem Strand, Sonnenschein, blauem Meer, von warmen Nächten unter südlichen Sternen. „Könnt ihr nicht ‚Süßer die Glocken nie klingen’ singen oder den Schneewalzer, jedenfalls etwas, das besser zu eurer Arbeit passt?“, fragte der Dichter. Das Fließband wurde gestoppt, alle suchten aufgeregt die CD mit den Weihnachtsliedern. Niemand wusste, wo sie war. „O Tannenbaum, o Tannenbaum“, stimmten einige Frauen an. Aber ohne Musikbegleitung wurde schon nach kurzer Zeit aus dem Tannenbaum wieder eine Palme am weißen Strand.
„Wenn du Weihnachtslieder hören willst, folge mir“, sagte die Schlange und glitt davon. Der Dichter stolperte hinter Ringel Natter her, zur Bushaltestelle, von wo sie bis zum „Dreiräubereck“ fuhren und die wenigen Schritte zum Studio Aachen des WDR zurücklegten, in dem bereits das Festtagsprogramm aufgezeichnet wurde. „Leise rieselt der Schnee…“ sang ein Kinderchor, um die Kleinen in Stimmung zu bringen, vor einer weißen Winterlandschaftskulisse. Fred Federtraum lächelte. „Hier bin ich richtig; jetzt fällt mir bestimmt etwas Passendes ein.“
Die Kinder waren fertig, sie eilten auf die Schlange zu und begrüßten sie stürmisch. Währenddessen trat der Star auf, die unbeschreiblich schöne Elvira Tamira, Sängerin am Aachener Stadttheater. „Oh, du fröhliche…“ stimmte sie an. Plötzlich unterbrach sie sich, lief zu Gevatter Natter, hob ihn hoch, drückte ihn an ihr Flimmerkleid, das sie, obwohl man es im Radio nicht sehen konnte, wegen des festlichen Anlasses trug, und gab ihm einen Kuss zwischen die Knopfaugen. „Mein lieber Freund Ringel! Wie freue ich mich, dich zu sehen.“
Da verflog die Feiertagsstimmung des Dichters. Stattdessen stieg ein hässliches Gefühl in ihm auf: Er war eifersüchtig – grün und gelb ärgerte er sich, weil Elvira Tamira die Schlange küsste und nicht ihn und sie so vertraut Ringel und Freund nannte. „Lass uns gehen“, sagte er barsch zu Gevatter Natter, „hier fällt mir nichts Vernünftiges ein.“
Am nächsten Tag saß Fred Federtraum abermals auf seiner Lieblingsbank am Hangeweiher, das Strickzeug in der Hand. Diesmal vergaß er die Ferse nicht, es wurde tatsächlich wieder eine Socke. Heute schämte er sich wegen seines gestrigen Benehmens, doch die Schlange zeigte Nachsicht. „Komm“, sagte sie freundlich, lass uns den Kindergarten besuchen, für den du deine Socken strickst.“
Im Eingangsbereich brannten Lichter auf einem lamettageschmückten Tannenbaum. Rundherum saßen festlich gekleidete Kinder und sangen Weihnachtslieder. „Siehst du dort das kleine blasse Mädchen?“, flüsterte die Schlange. „Sie heißt Marion und ist sehr krank. Eine Spezialklinik in Amerika will ihr durch eine neuartige Operation helfen. Mindestens fünf Monate muss Marion drüben bleiben. Weil sie im Dezember nicht zu Hause sein wird, hat sie sich gewünscht, jetzt, mitten im Sommer, das Weihnachtsfest zu feiern.“
Die Kinder führten ein heimlich geprobtes Krippenspiel auf. Sie überreichten ihrer Spielgefährtin selbst gebastelte Geschenke, sangen und trugen Gedichte vor. Fred Federtraum saß still dabei, sah und hörte zu. Ich würde gerne für das kleine Mädchen eine Geschichte erzählen, vom Heiligen Mann, der die Kinder liebt, besonders die kranken, dachte er. Ihm war noch nie im Leben so feierlich zu Mute, aber gleichzeitig spürte er tiefe Trauer. Darum fiel ihm auch jetzt kein Weihnachtsmärchen ein.
Am nächsten Tag schlief Ringel zusammengerollt im Wohnzimmer des Dichters, ließ sich nicht wachzurütteln, lag reglos da, sah aus wie ein gestrickter Wollschlauch mit Knopfaugen und benahm sich auch so. An den folgenden Tagen war es nicht anders. Trotzdem erzählte Fred Federtraum seinem Freund alles, was er von den Nachbarsfrauen erfuhr. Abends bettete er ihn in einen mit Staubtüchern ausgepolsterten Schuhkarton. Gevatter Natter schlummerte ununterbrochen weiter.
In der ersten Septemberwoche schlug das Wetter um. Es regnete in Strömen; binnen weniger Stunden wurde es ungemütlich kühl und windig. Die Schlange lag innen vor der Eingangstür, um die Zugluft abzuhalten, die unter der Ritze hindurchfegte. Fred Federtraum fragte sich: Wie ist sie dorthin gekommen? Er hatte sie jedenfalls nicht in den Hausflur getragen.
Am Nachmittag klingelte es. Draußen stand Fräulein Fröhlich, die Kindergartenleiterin, begleitet von ihrer Katze. Kein noch so wilder Straßenköter tut Flora etwas zu Leide. Weil man in Hundekreisen noch nie von einer fliederfarbenen Mieze gehört hat, merkt selbst der ungezogenste Kläffer gar nicht, dass Flora ein Samtpfotentier ist, und lässt sie in Frieden. „Wir brauchen unbedingt Geld“, berichtete Fräulein Fröhlich. „Marion fliegt nächste Woche nach Amerika. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für Operation und Klinikaufenthalt, doch für die Reise müssen die Eltern aufkommen. Sie haben ihr Erspartes von der Bank abgehoben, aber es fehlt noch einiges. Jetzt wollen wir den jährlichen Weihnachtsbasar auf den kommenden Sonntag vorverlegen, um das restliche Geld zu beschaffen. Spendest du uns wie jedes Jahr wieder selbst gestrickte Socken?“ Der Dichter holte die Strümpfe hervor. Fräulein Fröhlich verabschiedete sich dankend und selbst Flora schnurrte zufrieden.
„Gehen wir nächsten Sonntag zum Weihnachtsbasar?“, fragte Fred Federtraum die Schlange, nachdem die beiden fort waren. Es kam ihm vor, als nicke Ringel Natter zustimmend. „Mal sehen, ob meine Socken wieder alle verkauft werden. In diesem Jahr sind es nicht so viele, weil der Basar vorverlegt wurde. Zudem habe ich einige Tage lang keine Strümpfe gestrickt, sondern dich.“ Als er das sagte, schien ihn ein vorwurfsvoller Blick aus den Knopfaugen der Schlange zu treffen. „Warum schaust du mich so missbilligend an?“ Plötzlich wurde ihm sehr heiß und ungemütlich. Obwohl Gevatter Natter stumm blieb, wusste er, was er ihm mitteilen wollte: Die Frauen aus der Nachbarschaft hatten ihre Wollreste gebracht, damit er davon Socken für den Basar stricke. Wenn er stattdessen eine Schlange angefertigt hatte, so gehörte ihm diese also gar nicht. „Muss ich dich etwa für den guten Zweck stiften? Bitte Ringel, das kannst du uns nicht antun. Ich will dich behalten! Und du bleibst doch auch viel lieber bei mir?“ Die Schlange blickte ihn mit ihren Knopfaugen eindringlich an. Schließlich hob er sie mit Tränen in den Augen auf: „Also komm, ich bringe dich in den Kindergarten.“
Fred Federtraum hängte sich Ringel um den Hals und zog seinen Mantel darüber. Nur der Kopf der Schlange schaute vorne am Kragen heraus. So wärmten sie sich gegenseitig auf ihrem Weg. Es goss noch immer in Strömen. Der Dichter weinte. Er sah die Natteraugen feucht glänzen. Waren seine eigenen Tränen oder Regenperlen auf den Schlangenkopf getropft? Trauerte auch sein selbst gestrickter Freund? Der Dichter wusste es nicht und Ringel blieb stumm. Nachdem er Gevatter Natter im Kindergarten abgegeben hatte, begab Fred Federtraum sich todtraurig allein auf den Rückweg. Doch plötzlich rief er „Juchhu“ und sprang vor Freude in die Luft. Ihm war ein glänzender Einfall gekommen: Er würde beim Basar die Schlange zurückkaufen und dann gehörte sie rechtmäßig zu ihm.
Am Sonntag ging der Dichter in den Kindergarten. Es herrschte ein lebhaftes Treiben: Jungen und Mädchen quirlten aufgeregt herum, Erwachsene drängelten an den Verkaufsständen. Die fliederfarbene Katze Flora schielte begehrlich nach den Weihnachtsleberwürsten, die der Metzgerladen von nebenan gestiftet hatte. Fräulein Fröhlich schnappte die Mieze, trug sie in ihr Büro und zog Fred Federtraum mit.
„Ich werde bald heiraten“, verkündete sie stolz. „Der Malermeister Kleckerkleister ist mein Auserwählter. Zuerst mochte ich ihn, weil er immer fliederfarbene Berufskleidung trägt und wegen seines fliederfarbenen Katers Florian, der täglich meine fliederfarbene Katze Flora besucht.“
„Aber der Malermeister trägt doch stets eine weiße Latzhose, ein weißes T-Shirt und ein weißes Käppi“, erwiderte der Dichter, „und sein Kater ist, soviel ich mich erinnere, ebenfalls weiß.“ Fräulein Fröhlich lachte: „Du hast Recht. Aber ich ebenfalls – schließlich gibt es auch weißen Flieder.“ Dann eilte sie kichernd davon, um für Flora ein Stück Weihnachtsleberwurst zu kaufen.
Der Direktor der Schokoladenfabrik, durch einen Aufruf in der Aachener Zeitung informiert, hatte es sich nicht nehmen lassen, leckeres Naschwerk beizusteuern. Auch die Fließbandarbeiterinnen waren gekommen. Sie und die Frauen aus der Nachbarschaft erwarben, um Marion zu helfen, Sachen, die zum Teil von ihnen selbst angefertigt und gespendet worden waren: Gestrickte Eierwärmer, bemalte Glückwunschkarten, gehäkelte Topflappen.
Ich muss meine Schlange zurückkaufen, bevor sie mir jemand vor der Nase wegschnappt, dachte der Dichter. Seine Socken hatten alle schon Besitzer gefunden. Aber Gevatter Natter lag noch da. Fred Federtraum freute sich, andererseits war er enttäuscht, weil anscheinend niemand das geringelte Wolltier beachtete
„Jeder will die Schlange haben“, sagte Fräulein Fröhlich. „Ich werde sie darum meistbietend versteigern.“ „Wie ist bis jetzt das höchste Angebot?“, fragte neben dem Dichter eine Stimme. Überrascht sah er Elvira Tamira und bekam Herzklopfen. „Fünfzig Euro“, antwortete die Kindergartenleiterin. Fred Federtraum wurde elend zu Mute. Er musste also eine höhere Summe aufbringen, um Ringel Natter zurückzuerhalten. Aber ganz jämmerlich fühlte er sich, als Elvira Tamira mit lauter Stimme verkündete: „Ich zahle fünfhundert Euro für die Schlange.“ Mucksmäuschenstill wurde es plötzlich im Raum. Alle kamen näher. „Bietet jemand mehr?“, fragte Fräulein Fröhlich. Keiner hob die Hand. „Die Schlange gehört Ihnen“, sagte sie. Da fiel ihr Blick auf das unglückliche Gesicht des Dichters. „es sei denn“, fügte sie schnell hinzu, „der fleißige Stricker will sein Kunstwerk selbst erwerben. Er hat das Erstkaufsrecht und soll das Maschentier für fünfzig Euro haben.“ Fred Federtraum schüttelte den Kopf. Fünfhundert Euro! Der von Elvira Tamira angebotene Betrag würde Marions Reisekasse gewaltig aufbessern. Wie könnte er darauf bestehen, Gevatter Natter für den zehnten Teil der Summe zu kaufen. Tieftraurig schlich er davon.
Der Herbst verging. Es wurde Advent. In der Schokoladenfabrik stellte man bereits Osterhasen her. Heiligabend saß der Dichter fröstelnd allein daheim, während der Wind unter der Haustür hereinpfiff, denn keine Schlange lag davor, um die Zugluft abzuhalten. Selbst der Weihnachtsbaum schien die gedrückte Stimmung zu spüren; er ließ seine Zweige verzagt herabhängen; die feierliche Orgelmusik aus dem Radio klang schwermütig. Fred Federtraum grübelte: Wie geht es Marion? Ist die Operation gut verlaufen? Er griff zum Telefon und wählte die Privatnummer von Fräulein Fröhlich. Niemand meldete sich. Ach ja, richtig, sie war mit dem Malermeister Kleckerkleister und den fliederfarbenen Katzen Flora und Florian zu ihren Eltern gefahren, um ihnen ihren Verlobten vorzustellen. Fred Federtraum kannte weder Anschrift noch Telefonnummer; ebenso wenig wusste er, wo man Marions Eltern erreichen konnte.
Es schellte an der Haustür; fast hätte Fred Federtraum es überhört. Draußen stand eine Gruppe lachender Frauen, die Arbeiterinnen aus der Schokoladenfabrik. „Wir wollen dir ein Ständchen bringen. Du sollst das Weihnachtslied hören, das wir dir im Sommer schuldig geblieben sind.“ Und schon sangen sie: „Stille Nacht, heilige Nacht …“ Kaum hatten sie geendet, liefen sie schnatternd davon. Der Dichter war verblüfft und gerührt. Erst nach einer Weile fasste er sich. „Habt ihr erfahren, wie es Marion geht?“, rief er hinterher. Die Frauen eilten bereits um die Ecke und hörten ihn nicht mehr.
Fred Federtraum ging ins Wohnzimmer zurück; da klingelte es erneut. Er traute seinen Augen kaum, als er Elvira Tamira vor der Tür stehen sah. Der große Star kam ihn besuchen?! Elvira trat einen Schritt vor, legte ihre Arme um seinen Hals, gab ihm einen Kuss auf die Wange und eilte davon. Zurück blieb ein sehr überraschter und verlegener Dichter, dessen Herz vor Freude fürchterlich klopfte. „Wie geht es Marion?“, rief er ihr nach. Elvira Tamira verschwand bereits um die Ecke. Nur ihr Parfümduft schwebte noch in der Luft.
Kaum saß er wieder in seinem Sessel, klingelte es ein drittes Mal. Ein Motorschlitten auf Rädern parkte am Straßenrand, vor der Haustür stand der Weihnachtsmann. Der Heilige Mann reichte dem Dichter ein Päckchen: „Das soll ich dir von einer guten Freundin bringen“, sagte er und „Fröhliche Weihnachten“, dann eilte er zu seinem parkenden Fahrzeug. „Wie geht es dem kleinen Mädchen?“, fragte der Dichter. Der Weihnachtsmann musste es ja schließlich wissen. Doch dieser brauste bereits in seinem Motorschlitten davon.
Glücklich über all die Besucher saß der Dichter später in seinem Sessel, summte vor sich hin und entfernte die goldene Schnur und das Geschenkpapier von seinem Päckchen. Er jubelte laut auf, als er sorgfältig zusammengerollt Gevatter Natter darin entdeckte. Der Dichter drückte die Schlange an sich. Tränen liefen über sein Gesicht, doch diesmal waren es Freudentränen. Die Knopfaugen seines Freunde glänzten ebenfalls feucht.
Stundenlang erzählte Fred Federtraum der Schlange alles, was sich in den letzten Wochen ereignet hatte. Sie hörte geduldig zu, sagte nichts und gab auch keine Antwort als er fragte: „Wie geht es dem kleinen Mädchen?“
Mit der Schlange auf dem Schoß schlief der Dichter in seinem Sessel ein. Gegen Mitternacht wachte er auf, weil jemand im Zimmer sprach: „Marion hat die Operation gut überstanden. Sie wird bald nach Hause kommen“, sagte Gevatter Natter. Und noch etwas fügte die Schlange hinzu: „Warum schreibst du keine Weihnachtsgeschichte? Du könntest sie in einem Luftpostbrief nach Amerika schicken. Das Mädchen würde sich bestimmt freuen.“ „Aber ich bemühe mich bereits seit August vergeblich. Mir fällt nichts ein.“ „Erzähle einfach alles, was wir beide miteinander erlebt haben …“ schlug die Schlange vor. „Fröhliche Weihnachten“, fügte sie noch leise hinzu.
Am nächsten Morgen wusste Fred Federtraum nicht genau, hatte Gevatter Natter tatsächlich gesprochen oder war das nur seiner Fantasie entsprungen. Weihnachtslieder singend nahm er vor seinem Computer Platz. Während die Schlange zusammengerollt, unbeweglich und stumm, jedoch mit sehr zufriedener Miene, zu seinen Füßen lag, schrieb er: An einem heißen Augusttag saß der Dichter auf seiner Lieblingsbank im Hangeweiherpark … undsoweiter undsoweiter …
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Edda Blesgen verrät über sich:
Geboren im Jahr 1939, lebte ich bis 1961 in Aachen. Seit meiner Hochzeit wohne ich im benachbarten Belgien. Da ich bis zu meiner Pensionierung im Jahr 1999 bei der Stadtverwaltung Aachen beschäftigt war, fühle ich mich noch immer meiner Heimatstadt verbunden. Das äußert sich u. a. darin, dass ich täglich eine Aachener Zeitung beziehe.
Bisher veröffentlichte ich Märchen, Gedichte und Kurzgeschichten beim Belgischen Rundfunk und in verschiedenen Tageszeitungen. Bei mehreren Wettbewerben errang ich erste und zweite Preise. Für eine Computercommunity (feierabend.de) schreibe ich Kolumnentexte, außerdem Blogbeiträge für die Aachener Zeitung.