Kriegskindheit – Erinnerungen meiner Mutter

Ostern 1938 kam Käthi im Alter von 7 Jahren in die Schule. Zunächst besuchte sie die Volksschule Parkstraße, eine reine Mädchenschule. Ausgestattet mit einem Lederranzen, in dem sich eine Schiefertafel, ein Drehgriffel, Lappen und Schwamm befanden, erinnert sie sich noch an das Foto, das vor dem Schultor aufgenommen wurde, sie stand neben einer Tafel und darauf stand: „Mein erster Schultag“.

Sie wurde von einer älteren Lehrerin, dem Fräulein Leitgens, unterrichtet, die war sehr streng, aber trotzdem nicht unbeliebt. Wenn Frl. Leitgens Namenstag hatte, brachten ihr die Mädchen Geschenke nach Hause. Käthi erinnert sich z. B. daran, dass sie ihr einmal zu solch einem Anlass eine Bratpfanne, inklusive gebratener Wurst, geschenkt haben, worüber sie sich sehr gefreut hat, denn die Zeiten waren schlecht, nicht jeder besaß eine Bratpfanne und die Bratwurst war sicher auch schon ein Luxus.

Nachdem die Schule Parkstraße durch Bombenangriffe nicht mehr benutzbar war, zogen die Mädchenklassen in die Schule Michaelsbergstraße um. Hier gab es jetzt Jungen- und Mädchenklassen, aber beide streng getrennt voneinander.

Käthis Freundin Hanni war mit 6 Jahren aus Köln nach Aachen in die obere Hauptstraße (Nr. 74) umgezogen und besuchte mit Käthi zusammen die Schule. Nachmittags kam sie oft zur Hauptstraße 68, stellte sich unters Fenster und rief: „Käthi von Barth, kommst du runter zum Spielen?“ Und wenn Käthi Zeit hatte und raus durfte, setzten sich die beiden Freundinnen auf die Treppen und spielten mit ihren Puppen oder häkelten und strickten oder machten „Bommeln“ (Troddeln aus Wollresten, die mit Hilfe von zwei übereinaderliegenden runden Pappscheiben hergestellt wurden). Die Pappscheiben für die Bommelherstellung sammelte Käthi in der Schule, das waren die Deckel von den Schulmilchflaschen, die bereits in der Mitte ein Loch hatten, das für die Strohhalme vorgesehen war, aber nun als Öffnung für die Wollfäden diente. Käthi sammelte sie in ihrer „Kindergartentasche“, einer kleinen Umhängetasche, die sie für den Besuch des Kindergartens bekommen hatte, aber dann nie gebraucht hatte, weil sie einen Kindergarten nie besuchen konnte.

In einem Sommer gingen Hannis Mutter mit ihren beiden Töchtern Hanni und Maria sowie Käthi mit ihrer Mutter zusammen ins Freibad Hangeweiher zum Schwimmen. Käthis Mutter  besaß keinen Badeanzug, sie trug die ganze Zeit ein Flanellkleid an. Und es war so furchtbar heiß!

Alle saßen dort im Badeanzug und kühlten sich immer wieder im  Wasser ab, nur Käthis Mutter  lief der Schweiß runter. Käthis Badeanzug war bei  „Leenarts“ (Leonhard Emonts, Weißwarengeschäft) für 5 Groschen gekauft worden.Er war günstiger gewesen, weil er im Schaufenster gelegen hatte und von der Sonne ausgeblichen war.

Hannis Familie  besaß, genau wie Käthis Familie, einen Schrebergarten, er befand sich im Soldatengäßchen. Mit Hanni spazierte Käthi dann schon mal durch die Kolonie im Soldatengäßchen und ein andermal durch die Kolonie „Am Kreuz“ an der Eupener Straße.

Oft setzten sich die beiden Mädchen in der Hauptstraße vor Haus Nr. 70 auf die Treppen und häufig gab es  Ärger. Hier wohnte die alte Frau Beckers, von allen nur „et douv Beckesch“ genannt, die Kinder nicht besonders leiden konnte. Sie schüttete schon mal einen Eimer Wasser unter der Türschwelle durch, um die Kinder zu vertreiben.

Wenn der Schulzahnarzt in die Schule kam, hatte die meisten Kinder einen großen Bammel. Er kam immer unangemeldet, damit niemand an diesem Tag zu Hause blieb, und der große Wagen von der AOK parkte dann auf dem Schulhof. Jeder kam an die Reihe. Löcher wurden sofort an Ort und Stelle behandelt, zum Zähneziehen musste man einen Zahnarzt in der Praxis auf der Wilhelmstraße aufsuchen. Auch Käthi wurde es schon schlecht, wenn sie den Zahnarztwagen auf dem Schulhof stehen sah.

Am ersten Schultag nach den Ferien war immer „Fahnenappell“ auf dem Schulhof. Alle Klassen mussten sich dort in „Reih und Glied“ aufstellen. Die Fahne wurde gehisst und während man den Arm zum Hitlergruß erheben musste wurden das „Deutschlandlied“ und „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“ gesungen.

In den Klassenräumen waren die Kreuze abgehängt worden und durch Hitlerbilder und Hakenkreuze ersetzt worden. Religionsunterricht durfte nicht mehr stattfinden. „Heil Hitler“ wurde zum Morgengruß.

Auch die Schule Michaelsbergstraße wurde durch Bomben beschädigt, und Käthi musste wieder die Schule wechseln. Jetzt ging sie zur Volksschule in der Kapitelstraße. Mit Frl. Leitgens hatte sie noch immer Unterricht, aber bei ihr hatte sie nur noch Handarbeiten.  Es wurden Wollstränge aufgewickelt und dann daraus Topflappen gehäkelt. Ein anderes Mal wurden Puppenkleider gestrickt und auch Stopfen wurde erlernt z. B. an Hand von alten Handtüchern, die Löcher hatten.

Ihr Klassenlehrer war der Lehrer „Utti“, seinen richtigen Namen weiß sie leider nicht mehr, die Schüler haben ihn immer nur den „Utti“ genannt. „Utti“ war schon ein pensionierter „alter Knacker“ aber weil es keine jungen Lehrer gab, sie waren ja alle kriegsdienstverpflichtet, musste er unterrichten, obwohl er es eigentlich selbst nicht mehr wollte. Seine Nerven waren nicht mehr die besten, er war stets sehr nervös und schnell aufgebracht, was auch dazu führte, dass er die Schüler wegen jeder Kleinigkeit schlug.

Aus dieser Zeit stammt auch der Vers:

„Die Schule ist aus Lehm gebaut,
sie wackelt, wenn der Utti haut!“

Wenn sich mit einem unterbrochenen  Sirenenton ein  Fliegeralarm ankündigte, ging „Utti“ mit der Klasse zur Kasinostraße in den Bunker. Anfangs saß man dort nur die Zeit ab bis zur Entwarnung, um dann zurück in die Schule zu gehen. Als die Bombenalarme aber immer häufiger wurden, ging „Utti“ dazu über, die Kinder im Bunker lesen zu lassen, um sie zu beschäftigen und abzulenken und damit sie wenigsten etwas lernten. So ein Aufenthalt im Bunker konnte von 30 Min. bis zu mehreren Stunden dauern, je nachdem ob die feindlichen Flugzeuge Aachen nur überflogen auf dem Weg zu einem anderen Ziel, oder ob Aachen selbst bombardiert wurde.

Im Bunker selbst war es furchtbar eng, es gab jede Menge Holzbänke und sogenannte Luftschutzbetten mit Strohsäcken. Ab dem Jahr 1943 gab es fast ständig Bombenalarm. Im Anschluss an den Voralarm gaben die Sirenen einen auf- und absteigenden Heulton ab, das bedeutete, der Angriff konnte jede Minute beginnen. Jetzt durfte man die Häuser nicht mehr verlassen, und konnte höchstens noch in den Keller rennen. Erst wenn die Sirenen „Entwarnung“ gaben, auch erkennbar durch einen langen Heulton, durfte der Luftschutzbunker wieder verlassen werden.

Käthis Sportlehrerin, Frau Sinner, ging mit den Mädchen in die Schwimmhalle am Kaiserplatz. Hier sollte Käthi Schwimmen lernen. Sie hing  in ihren ersten Schwimmstunden an der „Angel“ und übte die Arm- und Beinbewegungen. Weiter sind ihre Schwimmversuche nicht fortgeschritten, denn die Schwimmhalle wurde bei einem Angriff vollständig zerstört und konnte nicht mehr benutzt werden. Dass es jetzt keinen Schwimmunterricht gab, machte Käthi nicht traurig, denn gerne war sie nicht im kalten Wasser und Schwimmen hat sie bis heute nicht gelernt.

Im Winter wenn draußen Schnee und Eis lagen, eignete sich die Hauptstraße vorzüglich zum Schlittenfahren, man hatte eine Superabfahrt von oben bis zum Burtscheider Markt. Außerdem wurden lange vereiste Schlitterbahnen angelegt, und die Kinder waren jedes Mal traurig, wenn das Kehrmännchen kam und sie zur Sicherheit der Fußgänger mit Sand bedeckte.

Weihnachten wurde der Gabentisch in der Küche am Fenster gedeckt. In einem Jahr bekam Käthi ein Manikür-Etui und ein anderes Mal einen Nähkasten zum Aufklappen  oder ihre Lieblingspuppe wurde neu eingekleidet. Normalerweise durfte Käthi den Baum nicht vor dem Weihnachtsmorgen sehen. Einmal jedoch durfte sie ihn schon vorher sehen. das fand sie aber hinterher gar nicht so schön, denn sie war Weihnachten so enttäuscht. Der Baum stand im Kinderzimmer in einer Ecke mit der Krippe darunter. Die Schafe an der Krippe fand Käthi immer so schön. Sie waren aus flauschiger Wolle und hatten lange, dünne Beine, wie aus Streichhölzern gemacht. Die Krippe war relativ groß, denn sie befand sich nicht nur unter dem Baum, sondern dehnte sich bis auf das Sofa aus. Das Sofa wurde mit Grottenpapier verkleidet und die Krippenfiguren darauf angeordnet. Später wurde die Krippe nur noch kleiner in der Küche aufgebaut, im Aufsatz vom Schrank.

Wenn zu Weihnachten Käthis Cousine Elli, die ein Jahr jünger war als sie, zu Besuch kam, war diese immer ganz begeistert vom geschmückten Weihnachtsbaum, der über und über mit Zuckerkringeln behangen war. Die Krippe liebte sie besonders, weil bei ihr zu Hause keine Krippe aufgebaut wurde. Die Felsen- und Gebirgslandschaft, die ihr Onkel Cornel („Nonk Cornelles“) aus Grottenpapier zauberte, faszinierte sie. Elli schlief mit Käthi zusammen im gleichen  Bett und ging erst am nächsten Tag wieder nach Hause.

Vor den Festtagen ging Maria B. immer zur Nachbarin, Frau Kuckelmann, die nebenan „Im Pelikan“ wohnte und ließ sich von ihr „die Haare machen“. Das „Haaremachen“ bedeutete, dass Frau Kuckelmann ihr Locken mit einer Brennschere legte, die sie zuvor auf dem Herd heißmachte.

Wenn  Käthis Oma Katharina Namenstag hatte, wurde immer groß gefeiert. Sie wohnte gegenüber in der Hauptstraße. Ihr Zimmer wurde leer geräumt, und weil man nicht genügend Stühle für alle Gäste (Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder) hatte, wurden Bügelbretter jeweils auf 2 Stühle gelegt, um mehr Sitzplätze zu schaffen. Es gab Kaffee und Kuchen und natürlich auch genügend „Schabau“(Schnaps). Onkel Hännes hielt bei solchen Gelegenheiten seine berühmten Vorträge, die oft zweideutiger Natur waren und worüber sich die Erwachsenen köstlich amüsierten.

Auch Käthi sollte zu solchen Gelegenheiten stets ein Gedicht aufsagen. Manchmal ging ihre Mutter vorher zur Lehrerin, um sich bei ihr eine „schönes Gedicht“ zu besorgen. Einmal sagte Käthi zusammen mit einer Freundin Emma aus der Nachbarschaft,  das Gedicht von der kranken Puppe Zilla in verteilten Rollen für die Oma auf, dabei war Käthi die Puppenmutter und Emma der Arzt:

Käthi:

„Herr Doktor, meine Puppe,
die Zilla ist nicht gut.
Sie mag heut keine Suppe.
Was hat sie nur im Blut?
Die Wänglein sind so heiß.
Sie lacht nicht seit heut morgen
Und macht mir große Sorgen.“

Emma:

„Gib dem Kinde Schokolade,
heize gut das Zimmer ein,
ganz gewiß nach einem Bade
wird es morgen besser sein.“

Die Puppe „Zilla“ war bei dieser Aufführung Käthis Lieblingspuppe Walburga. Den Namen hatte sie nach einer Schulkameradin von Käthi bekommen, und Käthi fand den Namen sehr schön.

Oma Katharina B. sah man stets am Fenster sitzen, die Gardinen zurückgezogen, um das Treiben und Leben auf der Hauptstraße zu beobachten. Dabei strickte sie Socken für die Männer der Familie oder stellte Pantoffeln, „Schlubben“ wie der Öcher sagt, aus Stoffstreifen her, die sie verwebte. Sie hatte Holzleisten in allen Größen und produzierte Hausschuhe für die ganz Kleinen, aber auch für die Großen. Dabei sang sie stets Marienlieder, z. B. „Maria, breit den Mantel aus“. Oma Katharina war streng katholisch und sehr fromm. Sie legte auch sehr großen Wert darauf, dass in ihrer Familie die Gesetze der katholischen Kirche befolgt wurden.

So erzählte Käthis Mutter Maria, dass sie nach Käthis Geburt innerhalb von 10 Tagen  zum Pastor gehen musste, um sich aussegnen zu lassen. Ohne Aussegnung durfte man früher nicht am Gottesdienst teilnehmen. Als sie früh morgens in die Kirche ging, traf sie dort ein Nachbarkinds, das bei ihrer Schwiegermutter im Haus wohnte. „Was machst du denn hier, so früh am Morgen?“ fragte Maria. „Die Frau B. hat mich geschickt. Ich soll gucken, ob Ihr Euch auch aussegnen lasst!“ antwortete sie. Das machte Maria natürlich fuchsteufelswild. Das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter war wohl auch nicht das Beste.

Im Alter von zehn Jahren mussten die Mädchen den „Deutschen Jungmädels“ beitreten, ab vierzehn Jahren dem BDM (Bund deutscher Mädchen). Auch Käthi musste dorthin. Alle Mädchen trugen eine Uniform, die aus einem Rock und einer Bluse bestand und später noch durch ein Halstuch ergänzt wurde. Diese Uniform mussten die Eltern selber finanzieren. Von einer älteren Nachbarstochter erhielt Käthi eine getragene Uniform, der Rock war zwar etwas kurz, aber die Mutter meinte: “Dat is jut so!“

Einmal in der Woche fanden die Gruppenstunden der Jungmädels im Jugendheim Kalverbenden statt. Hier wurde viel gesungen und Theater gespielt. Käthi ging ganz gerne zu diesen Treffen, sie waren gesellig und unterhaltsam.

Ihr älterer Bruder Köb (Jakob) musste der Hitlerjugend (HJ) beitreten. Hier wurde viel Wert auf körperliche Ertüchtigung, Sport und Schießübungen gelegt. Das war Köbs Sache nicht. Deshalb ging er schon mal nicht zu wöchentlichen Pflichttreffen, wurde deshalb allerdings von der Polizei zu Hause abgeholt, denn unentschuldigtes Fehlen war unter Strafe verboten.

Käthi musste oft Einkäufe erledigen, so ging sie regelmäßig zum Bäcker in der Hauptstraße Brötchen holen, zu 3 Pf das Stück, hier gab es auch Joghurt in Gläsern, den Köb so gerne aß. Zum Milchgeschäft „Gillessen“ ging sie mit der Milchkanne „lose Milch“ holen. Mit einer „Schepp“ (Messbecher“ zu ½ l oder zu 1l) wurde die Kanne gefüllt.

In der Hauptstraße gab es auch etliche Metzgerein, aber den besten „Presskopp“ (eine Art Sülze) gab es bei Lisa Peters auf dem Burtscheider Markt. Lisa wurde „Krollepänschje“ genannt und trug stets hochgeschnürte Schuhe. Einmal kam Mutter Maria vom Einkauf bei

Lisa nach Hause und Käthi freute sich, denn sie glaubte bei dem mitgebrachten Aufschnitt handelte es sich um gekochten Schinken, aber es war gekochter  Euter, der zudem noch „zäh wie Lappleder“ war.

Den besten „Puttes“ (Blutwurst) gab es beim Fleischer Redding auf dem Krugenofen, er enthielt dicke Stücke Speck. Manchmal holte man auch Kochwurst, die in Scheiben geschnitten aufs Butterbrot gelegt wurde.

Wenn Käthi für ihre Oma Katharina Schwarzbrot einkaufen musste, bestand diese darauf, dass es in der Bäckerei auf dem Krugenofen geholt wurde. Das war ein weiter Weg, wo sich doch in der Hauptstraße selbst etliche Bäckereien waren. Hatte Käthi Glück, durfte sie die 2 Pf, die als Restgeld übrig blieben, behalten.

Sehr beliebt war bei den Kindern das Sammeln und Tauschen von Maikäfern. Im Maimonat krabbelten sie in großen Mengen auf den Hecken und Bäumen herum. Sie wurden in Zigarrenkisten gepackt, die man mit ein paar Luftlöchern versah und mit Blättern als Futter füllte. Man unterschied drei Sorten: Am wertvollsten war der „Kaiser“, er hatte einen rötlichen Kopf und ein rötliches Brustschild. Er kam seltener vor als die anderen beiden und man konnte, wenn man Glück hatte, ihn gegen 2 Pf eintauschen. Die anderen Maikäfer nannte man „Müller“ und „Schornsteinfeger“. Der “Müller“ war weiß behaart und der „Schornsteinfeger“ dunkel mit wenigen Haaren.

Um Köb und Käthi eine Freude zu machen, brachten Onkel Adam und der Vater für die Kinder eine Menge Maikäfer mit nach Hause, die sie im Garten gesammelt hatten. Als man die Käfer in Zigarrendosen umfüllen wollte, kam es allerdings zu einer Panne. Die Käfer suchten sich einen Weg zurück in die Freiheit und flogen zum Fenster, Richtung Licht. Dort ließen sie sich auf den Gardinen nieder. Es war eine sehr mühevolle Arbeit, sie alle wieder einzusammeln.

Als in Burtscheid Schützenfest war und die Schützen mit ihren Trachten und Kapellen durch die Straßen zogen, war Käthi davon so fasziniert, dass sie immer weiter mit dem Zug mitging, ohne jemandem Bescheid zu geben oder auf den Weg zu achten. Sie begleitete die Schützen bis zum Stauweiher am Grindelweg. Hier fand sie später ihr Bruder Köb, der mit dem Fahrrad losgezogen war, um sie zu suchen.

Mit Ausbruch des 2. Weltkrieges musste man jeden Abend, ehe man Licht in der Wohnung machte, alle Zimmer verdunkeln, damit die feindlichen Flugzeuge nicht durch das Licht aufmerksam gemacht wurden. Entweder gab es dunkle Rollos oder es wurden Decken oder Pappe vor die Fenster gehängt.

Im April 1944, im Ostermonat, freuten sich viele Kinder auf ihre Erstkommunion, trotz aller Schrecken des Krieges. Am 11. April 1944, als Katharina 13 Jahre alt war, kam es jedoch zu einem Großangriff auf Aachen. Große Teile Burtscheids wurden zerstört und auch die Hauptstraße fiel den Brandbomben fast vollständig zum Opfer.  Auch das Haus Nr.68 wurde  getroffen.

Katharina hatte noch rechtzeitig mit ihrer Mutter Schutz im Bunker auf der Kasinostrasse gefunden, Köb war zu dieser Zeit bereits bei den Soldaten und nicht mehr in Aachen. Der Vater hatte Luftschutzdienst und hatte sich im Gewölbekeller des Hauses in Sicherheit gebracht und dort den Bombenangriff heil überstanden. Man war mit dem Leben davon gekommen, sonst war nicht viel geblieben. Nur die paar Habseligkeiten, die man in einer Tasche oder einem Koffer immer mit in den Bunker nahm, wenn wieder Bombenalarm durch die Sirenen gegeben wurde. Alle Möbel, Kleider, Geschirr, Spielsachen, Fotos, alles war unwiederbringlich weg. Auch das Kettchen mit den roten Steinen, dass Katharina von Tante Anna zur Kinderkommunion bekommen hatte und Mutters goldene Ohrringe mit den Rosen waren unter den Trümmern begraben.

Eine junge Frau, die im Hinterhaus gewohnt hatte, sah ihre komplette Aussteuer, die sie für die geplante Hochzeit gesammelt hatte, verloren. Das Haus war durch die Brandbomben völlig ausgebrannt, es standen nur noch verkohlte Mauern. Irgendwie hatte die Frau doch die Hoffnung, von ihrer Aussteuer noch etwas retten zu können. Sie bat einen jungen Soldaten, der sich in der Nähe befand, mit ihr ins Haus zu gehen und nachzusehen. Die verbrannten Mauern stürzten über beiden zusammen und begruben sie unter sich.

Die ganze Hauptstraße brannte, alle Häuser waren zerstört, und überall auf der Straße lagen Tote.

Nun hatte die Käthis Familie keine Bleibe mehr. Zunächst kam man bei Tante Tina auf der Hörn unter. Der Bruder vom Vater, Onkel Adam, besorgte ihnen dann zwei möblierte Zimmer in Eilendorf am Bahnhofsplatz, ein Zimmer auf der 1. und eins auf der 2. Etage. Das geliebte Burtscheid musste verlassen werden.

Man hatte kaum etwas zum Anziehen und war froh, wenn man etwas Getragenes geschenkt bekam. So erhielt Katharina auch einen alten Mantel mit Kapuze von der Vermieterin, der schon zwanzig Jahre alt war außerdem schon etliche Male umgefärbt worden war und jetzt rotes Futter aufwies. Zum Einkaufen, nahm Katharina eine Tasche aus Pappkarton mit. Einmal sollte sie im Konsum (später Coop) unter anderem eine Flasche Essig einkaufen. Katharina ging in ihrem Mantel und mit der Papptasche los. Es regnete in Strömen.  Die Tasche weichte auf, der Boden brach durch, die Flasche Essig fiel hin und ging zu Bruch. Der Essig lief dem armen Kind die Beine runter und rot gefärbter Regen lief ihr übers Gesicht. Die Vermieterin hatte Mitleid mit ihr und sagte: „Nee, wie sieht dat Kenk meä us!“ Sie schenkte ihr eine alte Ledertasche von ihrem Mann, die Käthi dann als Schultasche benutzte.

Wieder durch Onkel Adam bekam man später eine neue Wohnung  in Burtscheid (Hurra!) in der Abteistraße 4. Hier hatte man 2 große Zimmer, allerdings nicht möbliert. Die neuen Betten hatten statt Lattenrosten Holzbretter, die aus sehr frischem Holz geschnitten worden waren. Das Holz trocknete mit der Zeit und zog sich zusammen und passte dann nicht mehr so richtig in die Bettrahmen. So passierte es hin und wieder, dass man mit dem ganzen Bett zusammenkrachte, wenn man  sich nachts darin drehte.

Einmal, als Köb auf Urlaub zu Hause war und auch Tante Anna zu Besuch gekommen war, regte sich die Tante so über ihren Neffen auf, dass sie ein Buch nach ihm schmiss, Köb allerdings verfehlte und dafür die Fensterscheibe traf. Aber nicht nur die Glasscheiben sollten zu Bruch gehen. Auch die Wohnung in der Abteistraße wurde bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Die Familie hatte Schutz im Keller der  Schule von St. Johann gefunden. Wieder hatte man alles verloren. Im Haus in der Abteistraße gab es drei Tote zu beklagen.

Onkel Adam ließ seinen Bruder mit Frau und Kind zu sich kommen. Er wohnte mit seiner damaligen Frau Elisabeth (Lissje) auf der Hörn. Aber hier blieb man nur kurze Zeit, denn mit Tante Lissje hatte man es nicht leicht. Man hatte nicht das Gefühl, dass man hier willkommen war. Deshalb war man froh, als Cornels Schwester Tina ihnen nun schon zum zweitenmal anbot, bei ihr zu wohnen. Sie hatte ein kleines Häuschen, fünf Kinder und ein großes Herz.

Hinter dem Häuschen von Tante Tina befand sich ein großer Garten, in dem Gemüse angebaut wurde und sich ein Hühnerstall befand. Die Hühner liefen im Sommer oft durch die offene Küchentür ins Haus und waren so zutraulich, dass man sie sogar streicheln konnte. Sie ahnten ja noch nichts davon, dass ihre Zukunft irgendwann im Tante Tinas Kochtopf lag. Sie hielt nur Tiere, von denen sie sich einen Nutzen versprach. Tochter Käthi wünschte sich sehnlichst eine Katze, dieser Wunsch wurde ihr jedoch nicht erfüllt. Tante Tina meinte nur:

“ Eine Katze sei ein unnützer Fresser“. Als sinnvoll hingegen sah sie die Haltung eines Ferkels an, welches in einem Stall im Garten gemästet wurde. Einmal im Jahr kam der Metzger und es gab ein großes Schlachtfest. Dann war immer etwas los bei Tante Tina auf der Hörn. Auch Käthi war ab und zu bei solchen Gelegenheiten dabei. Es wurden große Mengen Wurst gemacht und alle hatten gute Laune und waren fröhlich. Oft wurde am Schlachttag folgendes Lied gesungen:

Is dat nix Marie?
Is dat jarnix ?
E ejen Hüsje wat net vöel kost?
Ne Stall voll Küchelscher,
mit dicke Büschelscher
end nevebei e Pöstjen bei de Post?

Aber auch zu anderen fröhlichen Anlässen erklang dieses Lied. Möglicherweise handelt es sich um einen  alten Karnevalsschlager, den vielleicht die „Postbüllen“ (Postangestellten)  gedichtet haben, die ein Einfamilienhäuschen auf der Hörn gebaut haben.

Wenn das geschlachtete Schwein verarbeitet war, wurde ein neues Ferkel angeschafft und bis zum nächsten Schlachtfest gut gefüttert.

Katharina schlief im Zimmer der Mädchen mit und für die Eltern war noch ein kleines Zimmerchen Parterre vorhanden. In der Zeit als man bei Tante Tina lebte, erlebte man wiederum einen schlimmen Fliegeralarm. Es war in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 1944. Alle versammelten sich im Keller, um den Bombenangriff abzuwarten. „Mam, halt dich an der Stipp fast!“ rief Käthi  ihrer Mutter zu, denn man hatte ihr erzählt, das es sicherer wäre, wenn man sich an einem Stützpfeiler festhielte. Das Haus nebenan, nur 6m entfernt, wurde bei diesem Angriff dem Erdboden gleichgemacht. Alle Bewohner, die sich darin befanden, waren tot. Es handelte sich um die Familie R., die fast komplett ausgelöscht wurde, die Großeltern Hubert und Anna, mit ihren Töchtern Maria und Katharina und die Enkelkinder Elisabeth und Klara.

Am Haus von Tante Tina war „nur“ das halbe Dach weg. Deshalb regnete es in der nächsten Zeit auch ständig durch die Zimmerdecken durch und man lag manches Mal mit Regenschirm im Bett, wenn es nachts regnete.

Tante Tina war zwar sehr nett und gastfreundlich, aber ein Dauerzustand konnte es nicht bleiben, hier mit der Familie zu wohnen. Käthis Vater Cornel  überlegte, wie er das Gartenhäuschen im Schrebergarten auf der Eupenerstraße zum Wohnen herrichten konnte. Jeden Abend ging er in den Garten und arbeitete dort. Als er das Häuschen soweit umgebaut hatte, mit Schlafpritschen versehen, dass man darin wohnen konnte, zog man bei Tante Tina aus und im Garten ein. Aber auch hier war man vor Bombenalarm nicht sicher. Wieder einmal gingen die Sirenen, und die Familie Barth rannte zum Bunker auf der Eupener Strasse. Einige Zeit später erhielt Maria B. den Bescheid zur Zwangsevakuierung. Sie musste sich mit ihrer Tochter Käthi zum Sammeltransport um Aachener Hauptbahnhof melden, ihr Mann Cornel durfte Aachen nicht verlassen. Mit anderen ausgebombten bzw. zwangsevakuierten Familien wurden alle auf Züge verteilt und verließen den Bahnhof mit ungewissem Ziel. Erst unterwegs wurde den einzelnen Familien mitgeteilt, wo sie aussteigen und sich dann melden mussten.

Es folgten 9 Monate in der Fremde. Katharina mit ihrer Mutter wurden nach Lüdinghausen in Westfalen evakuiert. Köb war noch immer an der Front, und der Vater musste dem Volkssturm beitreten. In Lüdinghausen lebten Maria und Käthi  beim Bauer Storkebaum, der mit seiner Frau fünf Kinder hatte. Der Bauernhof vom Bauer Storkebaum galt als der größte Hof am Ort, er besaß 13 Milchkühe. Auf dem Hof arbeiteten etliche Fremdarbeiter aus Frankreich und Russland und zwei ältere Mädchen, die eine Art Arbeitsdienst hier ableisten mussten und als Dienstmädchen bzw. Hausangestellte eingesetzt wurden. Man war hier nicht sehr willkommen, war doch einfach von oben bestimmt worden, dass man die Flüchtlinge aufnehmen musste, und die Bäuerin dachte in erster Linie an ihre eigenen Kinder und daran, dass diese genug zu essen hatten. Die beiden Mädchen, die auf dem Hof arbeiteten, waren allerdings freundlich zu der Familie. Sie brachten manchmal heimlich eine große Scheibe Bauernbrot vorbei, die mit einer dicken Scheibe Schinken belegt war. Und darüber freute man sich immer sehr. Ein andermal warnten sie Käthi davor, die Eintopfsuppe bei Familie Storkebaum mitzuessen. Sie hatten sie auf dem Herd warm gemacht und beim Umrühren gesehen, dass sich in der Suppe etwas bewegte – sie war voller Maden!

Man lebte hauptsächlich von dem wenigen, das man sich über die zugeteilten Lebensmittelkarten in den Geschäften holen konnte. Man konnte sie gegen Mehl, Zucker, Margarine, Bohnen, manchmal 100g Fleisch einlösen. Es gab auch Karten für Kleidung, aber nicht immer war in den Läden auch das erhältlich, was man laut Karte dafür bekommen sollte. Für eine Karte, die gegen ein Unterhemd eingetauscht werden sollte, bekam Käthi im Geschäft in Lüdinghausen einen dunkelblauen Unterrock mit den Worten: “Den kannst du genauso gut als Unterhemd tragen!“

Käthi fuhr immer mit einem alten Fahrrad in den Ort, das ihr die beiden Dienstmädchen geschenkt hatten. Das war schon ein großer „Luxus“ für sie. Allerdings besaß dieses Fahrrad keinen Sattel und es war auch nirgendwo einer zu bekommen. So fuhr Käthi stets im Stehen und das war sehr anstrengend. Aus alten Lappen machte ihr Vater später eine Art Sattelersatz, so dass sie sich wenigstens immer mal kurz setzten und ausruhen konnte.

Auch hier in Westfalen hörte man die Kampfbomber, wenn sie die nahen Großstädte bombardierten.

Später kam der Vater auch nach Lüdinghausen zu seiner Familie und sorgte dafür, dass es ihr etwas besser ging. Er war vom Kriegsdienst freigestellt worden, wohl auf Grund seiner schlimmen Schuppenflechte. Mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang es ihm seine Familie in Lüdinghausen ausfindig zu machen.

Zunächst wohnte man in einem Schuppen hinter dem Hühnerstall. Es gab ein großes Bett, in dem alle zusammen schliefen und einen gusseisernen Kohleherd. Bauer Storkebaum besaß viele Hühner, und da die neue Wohnung sich hinter dem Stall befand, verirrte sich ab und zu so ein Tier hierher. Cornel schnappte es sich, drehte ihm den Hals um, und es landete im Kochtopf. Auch die Eier, die oft im Heu verstreut lagen, fand er mit sicherem Auge. Aus den Milchkannen, die morgens voll auf dem Hof standen schöpfte er die eine oder andere „Schepp“ für seine Familie. Im Garten standen viele Obstbäume, u. a. auch Apfelbäume. Das Obst sollte Vater Cornel für die Bäuerin pflücken, etwas abgeben wollte sie nicht davon, aber das wurde vorher schon von ihm einbehalten. Katharina war inzwischen 13 Jahre alt. Das Weihnachtsfest verbrachte man in der Fremde, in einem Zimmer hinter dem Hühnerstall. Aber man war froh, dass man den Tannenbaum wenigstens mit „gemopsten“ Äpfeln (Sternrenetten) schmücken konnte.

Ein amerikanischer Soldat schlich sich eines Tages in das Zimmer der Familie B. und stahl aus dem Portemonnaie das wenige Geld, das darin war. Aber eigentlich war es kein richtiger Diebstahl, mehr ein Tausch, denn neben das Portemonnaie legte er ein Stück Seife und eine goldfarbene Zierdose.

Hier in Lüdinghausen musste Käthi natürlich auch die Schule besuchen. Sie ging mit einem Sohn von Bauer Storkebaum zusammen in die gleiche Klasse, denn er war gleich alt. So sollte er ihr auch seine Schulbücher ausleihen, aber das tat er nicht. Den Lehrer aus Lüdinghausen besuchte Käthi´s Familie auch  privat, sie erinnert sich noch daran, dass er zuckerkrank war und deshalb schon zum Frühstück Gemüse aß und, dass sie für ihn einmal Insulinspritzen im Krankenhaus abholen musste.  Einmal fragte der Lehrer sie, ob sie ihm nicht einmal ein Gedicht auf Öcher Platt aufsagen könnte und sie sagte den „Krenteweck“ auf, aber er verstand kaum etwas davon.

Der Krenteweck

Der Krenteweck loeg open Dösch
Än blenket appetitlich fresch.
Der Bäcker, deä em jrad hau braht,
dä hau em open Dösch gelaat.

Et Jüppche dat wor eje Zemmer
Än stong än lonket nun at ömmer
Doe no deä Weck, öm ze versöcke,
die Krente druus eruus ze plöcke.

Schwupp, stong heä draa – hä wor ne Frönd
va Krente, die ze plöcke sönd,
op eämol – stellt der Schreck üch vör,
du steäht de Modder ejjen Dör.

Die kritt em met en Uhr, vaweäje,
datt heä sich jrad die Krent hat kreäge.
„Du Bengel! Wad! Ich sall dich liehre
wat hass du Ondacht för Maniere!

Du schnütze, du nexnötzije Stropp!
Du köits wahl hei op dinge Kopp
Die Krente janz för dich alleng?“ –
„Neä Modder neä, et wor mer eng!

En Fleg, die hau sich ongerstange,
än wor doe an deä Weck jejange,
än wie ich nun die Fleg wou fange,
du bleäv die Krent mich doran hange!“

Katharina besuchte in Lüdinghausen auch die Sonntagsmesse, aber Mutter Maria weigerte sich mitzugehen. Sie sagte: „Ich geh erst wieder noe de Kerch, wenn ich weiß dat minge Jong noch lebt!“

Von Köb hatte man keine Nachricht mehr bekommen seit man in Lüdinghausen war. Erst als man wieder in Aachen war erfuhr die Familie, dass er in Kriegsgefangenschaft geraten war und sich in Irland befand.

Nach neun Monaten erhielt man eines Tages durch den französischen Fremdarbeiter, der mit einer Zeitung wedelnd angelaufen kam, die Nachricht „Aix-la-Chapelle ist von den Amerikanern besetzt!“ Und am 8. Mai 1945 hieß es: „Der Krieg ist aus!“

Cornel B. setzte alles daran, mit seiner Familie wieder zurück nach Aachen zu kommen. Er hamsterte Lebensmittel und ließ bei seinem Freund Hubert, den es mit seiner Frau Anna ebenfalls aus Aachen nach Lüdinghausen verschlagen hatte und jetzt in einer Schreinerei arbeite, einen Holzkoffer anfertigen.  Für sich selbst schreinerte Hubert ein Heuwägelchen, denn er hatte beschlossen mit Anna und der Familie B. wieder in die Heimatstadt zurückzukehren. Zuletzt ließ Cornel noch von den Töchtern einer befreundeten Familie Brote backen, damit die Nahrung für unterwegs sichergestellt war.

Das wenige Hab und Gut wurde in den Koffer und in Taschen gepackt, Käthi nahm ihr altes Fahrrad mit, Anna M. einen Kinderwagen und Hubert M. zog das Heuwägelchen und so machten sich die fünf Aachener Mitte Mai 1945 zu Fuß auf den Heimweg nach Aachen.

Abends fragten die Reisenden bei Bauern nach einem Nachtquartier, und durften meistens in der Scheune im Heu übernachten. Eines Nachts wurde Anna M. wach, weil sie glaubte, ihr Mann hätte ihr ins Gesicht geschlagen. „Hau mich doch nicht!“ rief sie, aber Hubert war nicht der Übeltäter, sondern eine Ratte, die Anna übers Gesicht gelaufen war.

Abends und nachts ertönten oft Sirenen, die die Bauern mit einer Handkurbel bedienten. Sie wechselten sich ab und hielten Wache aus Angst vor den ehemaligen Fremdarbeiten, die die Bauernhöfe überfielen und vor allem Nahrungsmittel stahlen und alle Dinge, die sie brauchen konnten. Viele Bauern hatten während des Krieges Fremdarbeiter auf dem Hof gehabt und sie oft schlecht behandelt, jetzt hatten sie Angst, dass sie sich dafür rächen würden.

Bei einem anderen Bauern hatten dessen Töchter Freundschaft mit amerikanischen Soldaten geschlossen und deshalb gab es dort den großen Luxus von richtigem Bohnenkaffee. Familie B. steuerte Brot bei und man hielt eine fröhliche Kaffeetafel vor dem Haus.

Unterwegs wurde auch Station in einem Aufnahmelager gemacht, wo man nach der üblichen Entlausung mit Entlausungspulver ein paar Tage verbrachte.

Endlich erreichte Familie B. den Rhein, aber die Rheinbrücken waren alle durch Bomben zerstört. Es gab nur noch kleine, schmale Stege, über die man das Wasser überqueren musste, und überall an den Ufern lagen tote Soldaten.

Als man nach Tagen anstrengenden Fußmarsches Rheindahlen (bei Mönchengladbach) erreichte, nahm ein freundlicher LKW-Fahrer die Aachener Heimkehrer hinten auf der Ladefläche bis Aachen mit. Es war der 28. Mai 1945, für die Katholiken feierte „Wilhelm“ an diesem Tage Namenstag.

Frau Follmer merkt noch an: “Die Kindheitserinnungen meiner Mutter (und auch die meines Vaters) habe ich 2002 aufgeschrieben. Inzwischen ist meine Mutter leider verstorben.”


 

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1 Antwort

  1. Henny Nikodem sagt:

    Ich finde es immer wieder gut, wenn wir erfahren, wie das Leben früher wirklich war. Wir die Generationen nach 1950 können uns das ja kaum vorstellen, wie es damals ums nackte Überleben ging. Und wenn unsere Großväter und Großmütter damals nicht so gut es eben ging für das Leben unserer Eltern gesorgt hätten und wo immer es ging was zu Essen mitgenommen (gestohlen) hätten, dann gäb es viele von uns heute nicht.
    Hiermit danke ich meinen Großeltern, die meine Eltern damals so gut versorgt haben. Ich danke dem Schicksal, da die Bomben sie zumindest nicht getroffen haben und zuletzt danke ich Hannelore Follmer dafür, das sie uns mit diesem Beitrag daran erinnert hat.

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