Stifte sind nicht nur zum Schreiben da
Das Einhard-Gymnasium zu Aachen, Lothringer Straße, war nicht das Babenberger Gymnasium, das Heinrich Spoerl in seiner Feuerzangenbowle so romantisch zu beschreiben versteht. Und doch strahlte auch die Aachener Schule eine Atmosphäre aus, die Schülerstreiche als wesentlich zu beinhalten schien wie Krimis von Edgar Wallace die Londoner Gaslaternen und den Nebel der City: Das Backsteingebäude gab sich altehrwürdig, mit seinem großen Säulenportal in der Mitte, der schlanken Zeder davor, einem hohen Gitterzaun zur Straße hin und einer noch höheren Mauer, die den Schulhof umgab. Sein Direktor wurde zwar nicht Zeus genannt, sondern einfach Direx, aber Dr. Franz Seewald war mit seinem gewellten Haar, der getönten Brille und seinem schwebenden Gang genau wie der Spoerl’sche Direktor Knauer „leise in jeder Beziehung und von unbestreitbarer Vornehmheit“.
Die Voraussetzungen für Schülerstreiche waren also blendend.
Doch nicht jede verbotene Schülertat ist ein Streich im guten Sinne: Die hohe Mauer um den Schulhof war nicht hoch genug, um nicht von einer Milch- oder Kakaoflasche, vom Hausmeisterehepaar Müller in der Pause zum Kauf angeboten, überwunden zu werden. Die Folgen waren Scherben jenseits des Schulhofes und einmal sogar die Beschädigung eines Fahrzeuges des benachbarten Transportunternehmens. Das war kein Schülerstreich, sondern Sachbeschädigung, ganz klar.
Auch die langen Schienen der Fahrradständer, die, wie überdimensionale Hockeyschläger geformt, die Schülerräder, platzsparend schräg in die Höhe geschoben, aufnahmen, waren verlockend. Sie bildeten eine Rutschbahn, wie eine Schanze für Skispringer. Die Flasche, oben angesetzt, sauste die Schiene hinunter und wurde durch das gebogene Endstück in die Luft katapultiert, konnte aber nicht unbeschadet landen, wie es ein Skispringer zumeist versteht, sondern zerschellte, auf dem Boden angekommen, in tausende Splitter. Auch das war kein Streich, sondern respektlos, denn der Hausmeister war der Leidtragende, der die Scherben beseitigen musste.
Die Zeit der romantischen Schülerstreiche, wie sie Heinrich Spoerl beschreibt, schien vorbei gewesen zu sein, passé; das meinten auch die Alten, also alle über dreißig, mit einem unüberhörbaren Bedauern in der Stimme. Gab es wirklich keine Streiche mehr? Doch, in einer kleinen Klasse aus fünfzehn Schülern war die jugendliche Energie so intensiv, dass man das Gegenteil beweisen wollte.
Stifte sind nicht nur zum Schreiben da, überlegte ein stiller Sekundaner bei sich und unterbreitete seiner Klasse den Vorschlag. Wie verabredet, lagen dann zu Beginn der nächsten Unterrichtsstunde auf allen Tischen, nahe den Außenkanten zu den Gängen, Schreibgeräte aller Art bereit: Bleistifte, Farbstifte, Kugelschreiber, sogar ein Füller und, fast ganz aus der Art der Stifte geschlagen, ein Zirkel, immerhin mit einer Bleistiftspitze versehen. Übereifrige begnügten sich nicht mit einem Utensil, sondern hatten gleich mehrere Stifte aufgefahren. Die Herren Lothar von Faber, Alexander Graf zu Castell-Rüdenhausen, László Biró und Josef Lamy hätten ihre helle Freude gehabt.
Die Schulstunde begann. Nach einer Eingewöhnungszeit, die man dem Unterrichtenden zubilligte, sollte das Signal in Form eines Hüstelns erfolgen. Doch dem auserwählten Signalgeber fehlte es entweder an Traute, oder er verschlief seinen Einsatz: Es tat sich nichts. Da fasste sich einer ein Herz und stieß seinen Stift vom Tisch. Es klackte zweimal vom Boden her, was in einer Schule aber nichts Ungewöhnliches ist. Dann jedoch folgte ein weiteres Klacken, und ein Drittes, Viertes, mehrere Klicks auf einmal, die sich zu einem gewaltigen Stakkato steigerten, das nur unzulänglich mit dem Brechen eines Staudammes verglichen werden kann, bis sich alle Tische stiftfrei präsentierten.
Dem bemitleidenswerten Magister blieben nur wenige Sekunden, um sich für eine möglichst weise Reaktion zu entscheiden. Bubu, so wurde er genannt, lief rot an und hatte damit schon den konventionellen Weg genommen. Die Verfärbung schlug in ein Gebrüll um, das das herrliche Geräusch, das eben noch im Raume nachklang, übertönte.
Die Strafarbeit wurde ertragen, Thema und Umfang sind heute vergessen, aber die Erinnerung an das einzigartige, klackernde Geräusch ist geblieben.
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Geborener Öcher, Streichholzetikettensammler in seiner Jugend (siehe gleichnamiger Text), Abitur am Einhard-Gymnasium, Studium an der RWTH, Lehrer im Ruhestand, lebt in Rheinbach, spielt gerne mit Sprache, Verfasser zahlreicher Texte, darunter Romane und Kurzgeschichten, z.B. „Der Mann im Mais“.
Seine Seite im Netz: günterdetro.de
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