Trauer, sanft und lieblich
Der Aachener Westfriedhof
Es gibt im Leben bekanntlich Höhen und Tiefen. Auch in Aachen. Wenn man sich tief in so einer Tiefe befindet, braucht man Trost. Und was wäre tröstlicher als ein Friedhof? Da traf es sich gut, dass ich damals, Ende der 70er Jahre, keine fünf Minuten Fußweg von Zuhause zum Westfriedhof hatte.
Es ist nicht das viele Grün, das so beruhigt. Eher ist es die Stille. Die paar alten Frauen, die mit Hacke und Gießkanne an den Gräbern ihrer Dahingeschiedenen hantieren, kümmern sich nicht um mich; niemand ist da, den ich zu fürchten hätte. Vor allem aber sind es die Figuren aus Stein und Bronze, die da so sanft vor sich hintrauern oder sinnend hinab ins eigene Herz oder auf die Stiefmütterchen zu ihren Füßen blicken. Auf dem Friedhof in Mailand, dem Cimiterio Monumentale, raufen sich die marmornen Leidtragenden die Haare oder werfen sich in wilder Verzweiflung übers Grab; in Aachen wie überall in Deutschland stehen oder sitzen sie gefasst und schicklich – ein leichtes Neigen des Kopfes muss als Ausdruck der Trauer genügen.
Die eine ringt zwar ein bisschen die Hände, aber vielleicht betet sie ja auch nur. Früher einmal schaute sie dabei zum Himmel auf, aber die Erosion hat vom steinernen Gesicht nicht viel übrig gelassen. Andere sind grün vor Schimmel und Moos, was ihre edle Haltung nicht beeinträchtigt. Wieder andere sind grün vom Grünspan. Es sind sogenannte Galvanoplastiken, um die Jahrhundertwende bei WMF im schwäbischen Geislingen produziert und per Katalog bestellt. Ihr Kern ist Gips, die dünne Haut Bronze. Gelegentlich kommt an so einer Figur unter einer aufgerissenen Stelle im Metall der Gips wieder zum Vorschein.
Und eine abgeschiedene Seele in fließendem Gewand schwebt mit fromm über der Brust gekreuzten Armen gen Himmel (sie schwebt ziemlich schräg, so dass ich jedesmal denke: Sie muß eine ziemlich solide Eisenarmierung in sich haben!), während ein Engel ihr mit erhobenem Arm zeigt, wohin sie auffahren soll.
Wenn man den Grabfiguren glauben darf, trauern nur Frauen. Auch die Friedhofsengel sind weiblich, und auch sie stehen meist gesenkten Hauptes da, einen Palmwedel im Arm, eindrucksvolle Flügel am Rücken. Und dann gibt es natürlich noch den Thorvaldsen-Christus, der sich auf jedem alten Friedhof findet. Von seinem hohen Sockel herab scheint er mit offenen Armen alle zu sich zu rufen, die da mühselig und beladen sind; bei ebenerdiger Aufstellung wirkt er eher so, als begrüße er die tagelang verschwundene Hauskatze: Ja, bist du endlich wieder da, Miezi!
Das waren noch Zeiten, als sich nach seinem Ableben noch was leisten durfte, wer es sich leisten konnte! Als noch keine Friedhofsordnung vorschrieb, wie hoch und wie breit der Brocken Naturstein sein darf, welche Farben zulässig sind, dass schwarzer Granit, Schliffe, Polituren und goldene Buchstaben verboten sind, etc. (der Erfindungsreichtum an Verboten in deutschen Friedhofsordnungen ist grenzenlos)!
Ein Grabmal von 1890 auf dem Alten Friedhof von Roermond zeigt, dass so etwas mitunter eine unzumutbare Härte bedeutete. Dort trennt eine Mauer den katholischen vom evangelischen Friedhofsteil, und sie trennt zugleich die Gräber einer katholischen Frau und ihres protestantischen Ehemannes. Aber die Grabstelen der beiden überragen die Trennwand, und zwei marmorne Hände halten sich über der Mauer gefasst. So etwas hat man in Aachen wohlweislich verhindert: Über die Vaalser Straße hinweg hätten die steinernen Arme denn doch zu lang sein müssen. Statt dessen gibt es heute die Brücke, und die konfessionelle Friedhofstrennung ist auch abgeschafft.
Ja, das waren Zeiten, als die Gutsituierten noch im Tode zeigen konnten, dass sie nicht irgendwer waren! In früheren Jahrhunderten hatten sie sich in der Kirche oder wenigstens außen an der Kirchenwand bestatten lassen. Später, als man die Friedhöfe aus hygienischen Gründen und/ oder aus Platzmangel vor die Stadt verlegte, musste man der örtlichen Hautevolee etwas ähnlich Repräsentatives bieten. In manchen Städten bekamen die Friedhofsmauern offene Arkaden, unter denen die pompösen Grabmäler der besseren Leute Platz fanden.
In diesen spitzbogigen Wandelgängen trifft man nie eine Menschenseele (es sei denn, ein plötzlicher Regenguss treibt jemanden hinein). Man ist allein mit der marmornen Dame, die sich schmerzerfüllt (O Gott, meine Migräne!) aus dem Salon in die Wand zu flüchten scheint.
Und all das soll tröstlich sein? O ja. Aber der Hauch der Vergänglichkeit, der einen angeblich auf Friedhöfen anweht? Nun, die steinernen und pseudobronzenen Figuren stehen nach hundert, hundertzwanzig Jahren immer noch. Und nicht immer ist ja Vergänglichkeit eine Drohung. „Das Sichere ist nicht sicher. So, wie es ist, bleibt es nicht”, heißt es bei Bertolt Brecht, und das ist als Ermutigung gemeint. Ich kaufte mir damals, 1979, eine Pocketkamera, um von den so lieblich Trauernden Porträtaufnahmen zu machen. Eine erste Stufe empor aus der Tiefe.
Mag für andere der schönste Platz an der Theke sein – für mich ist er, jedenfalls in Aachen, auf dem Friedhof. Auch und erst recht in glücklichen Zeiten.
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Waltraud Maisch schreibt über sich selbst: Ich bin alles andere als Aachenerin, habe aber 30 Jahre lang (bis 1999) dort gewohnt; das ergab sich halt so. Ich habe da anfangs in Studentenkreisen rumgehangen, später gearbeitet (in Büros, in einem Grafik-Atelier, in einem privaten pädagogischen Institut), zwischendurch mal ein bißchen als Liedermacherin getingelt, als das in Mode war. Inzwischen wohne ich wieder in Süddeutschland, wo ich 1969 herkam.
Helmut Spiegelmacher
(Freitag, 28 Februar 2014 17:25)
Schöner Platz!
Marion
(Sonntag, 02 März 2014 10:50)
Ja, ein Friedhof kann sehr entspannend und beruhigend sein. So eine Stimmung findet man zwar auch in der freien Natur – aber da gibts dann auch die Biker, Jogger, in Gruppen Wandernde, Hundehalter, Kinderbetreuer usw., die einen immer wieder im Innehalten und einfach Ruhe genießen aufstöbern. Nichts gegen Hundehalter & Co, ich gehöre selbst dazu, aber wirkliche, nahezu ungestörte Entspannung findet man tatsächlich nur an diesen “geschützten” Orten der Stille.
Als Kind und Jugendliche habe ich als Ostviertelkind sehr viel Zeit lesend und bummelnd und staunend auf dem Ostfriedhof und all seiner langsam verfallenden Friedhofskultur verbracht. Jahre später fand ich durch Zufall ein entsprechendes, sehr informatives Buch über den Ostfriedhof. Meine Friedhofsbesuche haben mir Ruhe und Kraft gegeben, obwohl einige Menschen es morbide oder sehr ungewöhnlich fanden. Aber was solls, jedem das seine.
Vielen Dank für den schönen Beitrag über Campo Santo. Er war mir zwar bekannt, aber ich hatte ihn schon fast vergesssen und war lange nicht mehr dort. Heute werde ich abseits von Karnevalstrubel dort wieder Ruhe suchen und staunen.