Das Roskapellchen
Mein Schulweg führte mich durch die Stromgasse, vorbei am Roskapellchen, weiter die Rosstraße entlang bis zum Gymnasium St. Leonhard, das damals noch ein reines Mädchengymnasium war und wo ich den „F-Zweig“ besuchte. Das bedeutete, dass ich mich außer mit Englisch mit keiner Fremdsprache „abrackern“ musste, stattdessen aber die Fächer Hauswirtschaftslehre, also Kochen, und Handarbeiten (Nähen, Häkeln, Stricken, Stopfen usw.) kennenlernen durfte. Diesen Schulweg bin ich viele hundertmal gegangen und oft, besonders gerne im Sommer legte ich auf dem Nachhauseweg einen Zwischenstopp im Speisehaus Zipprath in der Rosstraße ein, um mir ein leckeres Eis zu kaufen. Es wurde mit einem großen Löffel zwischen zwei Waffeln „geklatscht“ und schmeckte einfach köstlich. Ab und zu holte ich mir auch eine Tüte Fritten – ebenfalls ein „Gedicht“!
Dem kleinen Kapellchen am Ende der Straße schenkte ich damals wenig Beachtung, erst später bemerkte ich, dass es sich hier um ein echtes Kleinod handelte. Jedes Jahr, wenn die Pfarre St. Jakob ihr Pfarrfest feierte fand und findet immer noch im Schatten des Kapellchens die „Roskirmes“ statt. An den Kirmestagen streut das „Streuengelchen van en Rues“ Klömpchere (Bonbons) von oben auf die Kinder herab.
Aber was wissen wir über die kleine Marienkapelle, die von den Aachenern liebevoll „Roskapellchen“ genannt wird?
Ursprünglich befand sich an der Stelle, wo heute die Kapelle steht ein Laufbrunnen mit einer Viehtränke, sowie ein Bildstock mit Marienbild. Die Bauern, die auf den umliegenden Feldern arbeiteten (die „Kappesbauern“ aus dem Jakobsviertel) legten hier eine Arbeitspause ein und tranken Wasser und beteten. Die Legende sagt, dass ein Knecht namens Johann häufig in die Nähe des Brunnens kam, weil er hier in einer Schmiede die Pferde seines Bauern beschlagen ließ. Stets betete er dann am Marienstock und schenkte danach den spielenden Kindern Süßigkeiten. Nach seinem Tod fand man in seinem Nachlass Geld, das der Kirchenvorstand von St. Jakob dafür verwendete, einmal im Jahr Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen. Damals wurde der Grundstein für den Brauch des Streuengelchens gelegt. Aber erst im Jahr 1705 wurde der Verein „Streuengelche van de Rues“ offiziell gegründet.
Im 18. Jahrhundert nahm die Verehrung der Muttergottesfigur solche Ausmaße an, dass der damalige Pfarrer von St. Jakob (Johann Jakob Kloubert) 1759 das Roskapellchen bauen ließ, so wie wir es heute noch kennen: ein sechseckiger Bau aus Backstein, mit Tür – und Fensterrahmen aus Blaustein, gekrönt von einer dachreiterartigen Laterne. Im Innern steht auf dem Altar die mit einem Gewand gekleidete und gekrönte Marienstatue.
Besonders in Zeiten der Not suchten die Anwohner das Kapellchen auf, um die Gottesmutter um Hilfe anzurufen. Im Jahr 1832 brach in der dichtbewohnten Jakob- und Rosstraße die Cholera aus. Mehr als 428 Kranke wurden gezählt, fast die Hälfte starb. Daran erinnerte lange die „Choleraprozession“, die jährlich zum Roskapellchen zog.
Früher war es auch üblich, dass in der Fastenzeit und an den Muttergottestagen Prozessionen zur Marienkapelle und von dort weiter zum Münster zogen. Bis nach dem 1. Weltkrieg war es auch noch Brauch, dass wenn ein Kind zu Tode erkrankt war, drei Nachbarskinder mit einer brennenden Kerze zum Roskapellchen gingen und diese vor dem Gnadenbild aufstellten. Wenn die Kerze ruhig brannte, glaubte man an die Genesung des Kindes. Flackerte sie aber, dann war das ein schlechtes Omen.
Fronleichnamsprozession um 1960
Im 2. Weltkrieg wurde das Roskapellchen stark beschädigt, aber die Statue der Gottesmutter blieb wie durch ein Wunder unversehrt. 1958 erstrahlte es nach einer gründlichen Restaurierung wieder in neuem Glanz.
Der Verein „Streuengelche van de Rues“ pflegt liebevoll die alte Tradition des Streuengelchens. Während der Kirmestage wir zu bestimmten Zeiten eine Puppe, das „Streuengelchen“ mit Hilfe von Seilen hoch über der Rosstraße von einer Seite zur anderen gezogen. Dabei dreht es sich und wirft von einer Schale Bonbons auf die jubelnden Kinder. Aber es gibt nicht nur die Puppe, in jedem Jahr wird auch ein Kind zum „Streuengelchen“ gewählt. Bewerben können sich alle Mädchen zwischen 4 und 6 Jahren, die im Bereich der Pfarre St. Jakob wohnen oder deren Eltern bzw. Großeltern Mitglied im Verein sind. Am Wahltag zieht dann jedes Kind ein Kärtchen mit einer Zahl. In der Reihenfolge 1 bis ? (je nach Anzahl der Bewerbungen) können sich die Mädchen eine Pralinenschachtel aussuchen. In einer Schachtel befindet sich eine kleine Engelsfigur – damit ist das neue Streuengelchen ermittelt. Hat hier vielleicht Heidi Klum sich Anregungen geholt für „Germany´s Next Topmodel“? „Ich habe leider kein Foto (Engelchen) für dich!“ Wenigstens gibt es hier zum Trost eine Schachtel Pralinen! Aufgaben des Streuengelchens bestehen neben dem Verteilen von Bonbons darin, einen Kindergarten und ein Altenheim zu besuchen und bei der Nikolaus- und Weihnachtsfeier zu assistieren.
Während der alljährlichen Roskirmes wird vor der Kapelle ein Gottesdienst gefeiert, die Rosstraße wird festlich geschmückt, es gibt Verkaufsstände, Trink- und Grillbuden.
Neben dem Roskapellchen befindet sich seit 1988 eine bronzene Streuengelchenfigur, die von Frau Lipette Jungbecker vom Verein gestiftet wurde.
In einem Gedicht unseres Mundartdichters Will Hermanns (um 1920) schreibt er vom Roskapellchen: „Litt en Ochen e Kapellche, tösche Huser kleng en jroe…“
Die ehemals schmuddelig-dreckigen Häuser gibt es nicht mehr, hier stehen längst Neubauten. Einige unter Denkmalschutz stehende Häuser wurden liebevoll restauriert, Speisehaus Zipprath hat seine Türen für immer geschlossen, aber das Roskapellchen steht noch immer im Schatten der Pfarrkirche St. Jakob und das Streuengelchen streut noch immer jedes Jahr auf der Roskirmes seine Klömpcheren. Hoffentlich bleibt uns dieser alte Brauch noch lange erhalten!
Für Freunde des Öcher Platts hier das Gedicht von Will Hermanns in voller Länge:
Rueskapellche
Litt en Oche e Kapellche
tösche Huser kleng än jroe.
Op dat Tüüenche met dat Schellche
laacht der Hömmel klor än bloe.
Woe äls Kenk ich döcks jeseiße
wie e Müssje ejjen Dues,
dich en kann ich net verjeiße.
mi Kapellche vajjen Rues!
Och, wie döcks wahl an ding Mure
stong ich stolz der Beäreboum,
speälet Lankholl, Eckelure,
dat verjong nun wie ne Droum!
Kengerkleier sönd verschleiße,
an vür wooete oet än jrueß,
mär ich kann dich net verjeiße,
mi Kapellche vajjen Rues!
Op än av ben ich jetrocke
dörch Landaue schönn än schroe,
suueht met Kümmen än met Flocke
noh et Jlöck.-Et wor net doe!
Schong kapott,der Rock zerreiße,
treck noh heäm ich löstig-lues…
Dich en kuuent ich net verjeiße,
mi Kapellche vajjen Rues!
(Schellche = Glocke, Beäreboum=Kopfstand, Lankholl=Nachlaufspiel, Eckelure = Eckenlauern, schroe = hässlich, Flocke = Fluchen)
Quellen:
- Aachener Nachrichten vom 30.7.2004
- http:// gemeinde-jakob-aachen.kibac.de/kirche-u-geschichte
- http.//streuengelche.de/pages/der-verein.php
- alle Fotos von mir selbst aufgenommen, außer der Fronleichnamsprozession (aus dem Fundus meines Schwagers Werner Haupts, es zeigt seinen Opa im Vordergrund, der als Domschweitzer der Prozession vorangeht)
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Hannelore Follmer im April 2015 über sich:
Ich bin Jahrgang ’57 und ein “echter Öcher met Hazz en Blot”. Meine Heimatstadt ist für mich die “schönste Stadt der Welt”. Ich bin verheiratet und habe zwei erwachsene Kinder.
Eins meiner Hobbys ist das Öcher Platt. Im Verein Öcher Platt bin ich langjähriges Mitglied.
Liebe Hanne,
eine weitere anschauliche Jugendepisode, die den Leser Deinen Weg durch die Rosstraße mitgehen lässt.
Weiter so.
Richard
Mein Papa Josef Frohn war auch im streuengelchen Verein, ich weiß leider nicht wo ich das lied bekommen kann, können sie mir bitte helfen, lieben Gruß Kathi Frohn
Helfen könnte der Verein “Streuengelche van de Rues” oder der Verein “Öcher Platt”.
Hier die email Adressen:
info@streuengelche.de bzw. internet@oecher-platt.de
Liebe Grüße H. Follmer