In Aachen angekommen

Es ist ein sonniger Vormittag im September. Die kleine Kapelle auf dem Aachener Ostfriedhof ist bereits mit Trauergästen gefüllt, als ich eintreffe. Vor dem Eingang zu dem 1903 eingeweihten Sandsteinbau hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Es sind viele bekannte Gesichter unter den Trauergästen, denn der Verstorbene war früher ein Beamter der Stadtverwaltung, zuletzt Leiter des Versicherungsamtes. Obwohl es für mich Onkel Walter war, habe ich keine besondere persönliche Beziehung zu ihm gehabt, denn er hatte sich früh von meiner leiblichen Tante, also der Schwester meines Vaters getrennt. Ich bin gekommen, um seine Töchter, also meine beiden Cousinen Uschi und Erika bei diesem letzten Gang zu begleiten.

Die Exequien sind gelesen, die Trauergemeinde begibt sich auf den Weg zur letzten Ruhestätte auf dem alten Aachener Friedhof. Es geht vorbei an historischen Familiengruften und kunstvoll gearbeiteten Grabmälern von bekannten und alteingesessenen Familien der Kaiserstadt. Angekommen am frisch ausgehobenen Grab kommt mir der Gedanke, dass nun der Mensch bestattet wird, der dafür gesorgt hat, dass ich ein „Öcher Jung“ bin, hier geboren und fest mit der Heimat verwurzelt. Dafür sollte ich ihm dankbar sein. Doch warum ist das eigentlich so?

Diese Weichenstellung ist schon fast eine Ewigkeit her und in Europa herrschte zu dieser Zeit ein grauenvoller Krieg, der nicht nur unermessliches Leid, sondern auch bis heute spürbare Umwälzungen mit sich brachte. Onkel Walter war in diesen Jahren wie die meisten jungen Männer Soldat und lernte in den Kriegswirren meine Tante Irmgard kennen, die als Krankenschwester für das Rote Kreuz im Lazarettdienst eingesetzt war. Nach Kriegsende ist Irmgard nach Aachen gekommen, um den Uröcher Walter in seiner geliebten Heimatstadt zu heiraten und mit ihm eine Familie zu gründen. Dafür musste sie ihr bisheriges Zuhause in Oberschlesien für immer aufgeben.

1.v.L.: Wolfgang Sanders (Sen.) als Marinesoldat mit Kameraden

Auch mein Vater Wolfgang, Geburtsjahrgang 1925, konnte nach der Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft nicht mehr zu den Eltern in seinen oberschlesischen Geburtsort Föhrendorf (Sembowicze) bei Oppeln zurückkehren, da Deutsche in dieses zwischenzeitlich polnisch verwaltete Gebiet nicht mehr hereingelassen wurden. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes wurde ihm aber in einem Lazarett liegend der Aufenthaltsort seiner älteren Schwester mitgeteilt. Der erste direkte schriftliche Kontakt kam nur mit Hilfe einer dort eingesetzten Krankenschwester zustande, da mein Vater zu schwach war, um eigenhändig einen Brief aufzusetzen.

Entlassungsbescheinigung aus dem Kriegslazarett und der Gefangenschaft

Als er am Ende des Jahres 1945 einigermaßen transportfähig war, reiste er zu seiner Schwester nach Aachen, um im äußersten Westen des zerbombten Landes ein neues Leben anzufangen. Er war völlig ausgehungert und hatte nichts dabei als die zerlumpten Kleidungsstücke, die er am Leib trug. Von der alliierten Militärverwaltung hatte er eine Ausnahmegenehmigung von dem Verbot, Wehrmachtskleidung zu tragen, erhalten, damit er sich mit seinem Armeemantel noch eine Zeit lang vor der Kälte schützen konnte. Einen anderen Mantel hatte er nicht und auch kein Geld, um sich neue Kleidung zu kaufen, selbst wenn es etwas zu kaufen gegeben hätte.

Ausnahmegenehmigung von dem Verbot über das Tragen militärischer Uniformstücke

So stand er nun da als junger Mann in der stark zerstörten Stadt Aachen ohne eine eigene Bleibe, ohne Geld und ohne Berufsausbildung. Denn er war direkt nach dem vorgezogenen Abitur eingezogen worden, um in einem grauenvollen Krieg für ein verräterisches Vaterland zu kämpfen und trotzdem das Zuhause zu verlieren.

Frisch beim Militär angekommen, durfte er zunächst auf einem Schiff, der „Schlesien“, auf der Ostsee eine Marineuniform tragen. Später zog er als Leutnant der Infanterie mit einer kleinen Truppe in Richtung Osten an eine schon längst zerbrochene Front, wo er dann kampflos in Gefangenschaft geriet. Er hatte Glück im Unglück, denn er wurde früh aus der entbehrungsreichen Kriegsgefangenschaft entlassen, weil er kurz vorher alle Rangabzeichen und sein Soldbuch vernichtete. Als Offizier hätte ihn die Siegermacht nicht einfach ziehen lassen, doch so konnte er wieder zurück in das zerstörte Deutschland, als er völlig entkräftet, arbeitsunfähig und damit nutzlos für das russische Arbeitslager war.

Die erste Registrierung in Aachen durch die Militärregierung

Die Versorgungslage in Aachen nach dem Krieg war schlecht

In Aachen angekommen, musste er erst wieder aufgepäppelt werden. Doch wollte den jungen Mann anfangs kein Krankenhaus aufnehmen, da es hieß, es lohne sich nicht mehr, er käme ohnehin nicht durch und man konzentriere sich lieber auf aussichtsreichere Fälle. Aufgrund der Beharrlichkeit seiner Schwester fand er aber schließlich Aufnahme im Vinzenzheim, das damals als Lazarett betrieben wurde. Dort wurde er zum Glück wieder gesund gepflegt, so dass er einige Zeit später seinen Weg in ein normales Leben einschlagen konnte, soweit dies direkt nach dem Krieg in der zerstörten Stadt möglich war.

Die Stadtverwaltung funktioniert wieder

Nach einer Übergangszeit, die er mit Hilfsarbeiten überbrücken konnte, absolvierte er bei der Firma Gehlen in der Welkenrather Straße eine Maurerlehre, die er im April 1950 erfolgreich abschließen konnte. Danach wurde er auf der Staatsbauschule angenommen, um Ingenieurwesen zu studieren. Nach dem erfolgreichen Abschluss Anfang 1953 hatte er die Wahl zwischen einer Tätigkeit in einem Bauunternehmen oder bei der Stadtverwaltung Aachen. Er entschied sich für eine Laufbahn im technischen Dienst bei der Verwaltung und kümmerte sich fortan im Tiefbauamt um die Planung und den Bau der Aachener Kanalisation. Dabei schlug er tiefe Wurzeln in den Aachener Untergrund, die ihm zeitlebens einen festen Halt in seiner neuen Heimat geben sollten.

Auf die Absolventen der Staatsbauschule in Aachen wartet 1953 viel Arbeit

Der junge Tiefbauingenieur auf der Baustelle in Burtscheid

Um eine Familie zu gründen, fehlte es dem jungen Ingenieur noch an einer passenden Frau. Doch die sollte er, wenn auch in einiger Entfernung und zwar am Niederrhein in dem kleinen Ort St. Hubert (heute ein Ortsteil von Kempen im Kreis Viersen) finden. Von Freunden hatte er gehört, dass dort eine Familie mit vier adretten Töchtern im heiratsfähigen Alter sei. Zudem sei die Versorgungslage dort besser als in der Großstadt. Er ließ sich kurzerhand dorthin mitnehmen und fand schnell Gehör bei meiner zukünftigen Mutter Waltraud.

Nach der Heirat im November 1953 zogen sie zusammen in eine Etagenwohnung in der Jülicher Straße. Für meine Mutter war es ein Albtraum, schon bald mit zwei kleinen und dazu sehr lebhaften Kindern an dieser vielbefahrenen Straße zu wohnen. Daher wurde jeder Pfennig zweimal umgedreht, um den notwendigen Eigenanteil für den Kauf eines Eigenheims zusammen zu sparen.

1954 am Elisenbrunnen

Mein Großvater, Franz Sanders, wurde wenige Tage vor Ende des zweiten Weltkriegs aus gesundheitlichen Gründen aus dem Militärdienst entlassen und konnte demzufolge noch rechtzeitig vor Torschluss zurück nach Oberschlesien finden. Allerdings waren in das Haus, das er nach seiner Rückkehr aus der englischen Gefangenschaft des ersten Weltkriegs für seine Familie gebaut hatte, zwischenzeitlich fremde Menschen einquartiert worden. Seiner bisherigen Tätigkeit als Leiter der Postagentur durfte er nicht mehr nachgehen. Stattdessen musste er eine Arbeit als Busfahrer annehmen.

Franz Sanders 1958 in der Lothringer Straße mit seinen Enkelkindern (v.L. Uschi, Gaby, Josef, Erika)

Franz und seine Frau Martha durften trotz mehrmaliger Anträge erst Jahre später ausreisen und mussten dafür ihr Haus und die ganze Habe in Oberschlesien zurücklassen. Nach Ihrer Ankunft im Durchgangslager Friedland am 18.01.1957 fanden sie in Aachen eine Wohnung in der Lothringer Straße Ecke Friedrichstraße, wo meine Geschwister und ich sie als Kind oft besucht haben; besonders gerne zu den Karnevalstagen, da der Rosenmontagszug direkt am Haus vorbei lief.

So kam schließlich die Familie vom äußersten Osten Deutschlands in den äußersten Westen, genauso wie viele andere Vertriebene und Entwurzelte aus den Ostgebieten, die damals eine neue Heimat im geschrumpften Deutschland finden mussten.

Im Jahr 1959 war es endlich soweit und die junge vierköpfige Familie des Bauingenieurs konnte nach Burtscheid in ein neu errichtetes Eigenheim ziehen. Von nun an war die Juttastraße 16 das Zuhause der Familie Sanders und sollte es für ein halbes Jahrhundert bleiben. Ein drittes Kind war schon unterwegs und ich vervollständigte 1965 als viertes Kind die Familie. Da es keine weiteren Geschwister mehr geben sollte, wurde ich nach meinem Vater benannt und höre bis heute auf den Namen Wolfgang.

Neubau der Juttastraße in Burtscheid 1959

Nicht nur seinen Namen habe ich geerbt, sondern auch die starke Bindung an die Stadt, in der ich an einem Tulpensonntag geboren wurde. Meine Eltern hatten sich beide von Anfang an in Aachen zuhause gefühlt und nie den Verlust ihrer Geburtsorte beklagt. Es wurden zwar bis weit in die achtziger Jahre hinein Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung zu den entfernten Verwandten nach Oberschlesien geschickt, doch hatte mein Vater für sich und seine Familie Aachen als Lebensmittelpunkt gewählt, ohne seiner früheren Heimat ernsthaft nachzutrauern. So hat er auch die endgültige Anerkennung der Deutschen Ostgrenze und die Versöhnungspolitik von Willy Brandt anders als manch anderer Vertriebener als Grundlage für eine friedliche Entwicklung in Europa befürwortet.

Die Spieler der Fußballmannschaft der BSG Stadtverwaltung tragen mit Stolz das Stadtwappen auf der Brust (ca. 1957)

Meine Eltern hatten sich auf Aachen eingelassen und die Stadt mit ihren Menschen hat ihnen im Gegenzug genauso wie vielen anderen in schwierigen Zeiten neu hinzugekommenen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich am Wiederaufbau nach dem Krieg und der Weiterentwicklung zu beteiligen. Mein Vater hat, bevor er im Jahr 1985 starb, zwar keine Denkmäler hinterlassen, aber einen wichtigen Beitrag für die kommunale Infrastruktur der Stadt geleistet. Die Kanäle, die er in gut drei Jahrzehnten geplant und deren Bau er begleitet hat, sorgen immer noch für eine geordnete Entwässerung in unserer Stadt. Die tiefen Wurzeln, die er dabei geschlagen hat, halten bis heute seinen jüngsten Sohn an dieser liebenswerten Heimat fest.

Neue Kanäle braucht die Stadt

Kanalbau am Theaterplatz (ca. 1979)

Denn Aachen war, ist und bleibt hoffentlich für immer eine weltoffene Stadt, die den aus einer kleiner gewordenen Welt hierhin kommenden Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eine Zeit lang oder auf Dauer ein neues Zuhause, eine neue Heimat geben kann.


Wolfgang Sanders, Aachen, 02.04.2018

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1 Antwort

  1. Doris Müller sagt:

    Eine Geschichte aus dem Leben die damals viele Schüler betraf, auch mein Vater kam mit
    17 Jahren in russischer Gefangenschaft und als sogenannter Spät-Heimkehrer wieder nach Hause.
    Für diese jungen Leute eine verlorene Jugendzeit. Solche Berichte müssten in den Schulen vorge-
    lesen werden, damit sich solch ein Krieg nicht wiederholt.

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