Kindheitserinnerungen rund um St. Adalbert

Irgendwann setzt vielleicht bei jedem Menschen der Wunsch ein, etwas näher auf seinen Ahnenstammbaum zu blicken und etwas über seine Vorfahren zu erfahren. Dank der heutigen Möglichkeiten, wie z.B. dem Internet, ist eine Ahnenforschung mit etwas Glück eigentlich keine große Sache. Wenn dann noch genügend ältere Personen in der Familie zu befragen sind, die noch nicht unter Alzheimer leiden, ist der Suchende schon auf dem richtigen Weg. In meinem Fall haben intensive Befragungen zum Erfolg geführt.

Mütterlicherseits richtet sich mein Blick auf meinen Opa Karl, den ich leider nie kennen gelernt habe. Opa Karl war bei der Bahnpolizei und verunglückte tödlich, als er im Dienst 1953 spielende Kinder von den Zuggleisen zwischen Aachen und Stolberg holte und dabei selber von einem entgegenkommenden Zug überfahren wurde.

Väterlicherseits stammt ein Zweig meiner Vorfahren aus Frankreich. Im 18. Jahrhundert lebte in Paris der Prinz von Herzeleid. In Holland lebte etwas später der Großonkel Jean Suiyk, der Rittmeister der Königin Juliane war. Weitere Vorfahren stammten aus Belgien und Spanien.

Wer jetzt denkt, ich habe meine Kindheit in Burgen und Schlössern verbracht, der irrt. In der Gartenstraße 24, im Aachener Westviertel, stand im elterlichen Schlafzimmer mein erstes Kinderbettchen. Im nahen Westpark fanden 1960 meine ersten Kinderwagenfahrten zusammen mit meiner ersten Babyfreundin Mercedes statt.

1961 zogen meine Eltern in eine größere Wohnung in die untere Rudolfstraße 68 um, in der ich ein eigenes Zimmer hatte. Unsere Wohnung lag direkt neben dem Haus der legendären Keglerzentrale, in der verschiedene große Bundeskegelbahnen allabendlich zahlreiche Kegler anlockten. Der Freizeitsport Kegeln war damals mächtig angesagt und bescherte den Kegelgruppen viele schöne Stunden – und den Kegelbahnbesitzern ein gutes Geschäft. Mein Vater war auch in einem Kegelverein. Einmal im Monat wurde an einem Freitag um den goldenen und silbernen Kegelpokal gespielt.

In der gleichen Straße befand sich die bekannte Kohlenhandlung Carduck. Unserem Haus gegenüber lag eine Kneipe in der sich werktags zum frühen Feierabend zahlreiche Müllmänner zum Löschen des Durstes trafen. Na klar, die damaligen Metalltonnen wogen einiges mehr als heute und in diese Tonnen wurde, außer heißer Asche, alles entsorgt. Von einer Mülltrennung hatte damals noch keiner etwas gehört. Es gab keine Biotonne, keinen gelben Sack und auch der Glascontainer war noch nicht erfunden.

Mein Vater führte ab 1957 an der Normaluhr, genauer gesagt in der Kurbrunnenstraße 41, dort wo jetzt die Landeszentralbank steht, zusammen mit meinem Opa Georg einen Damen- und Herren Friseursalon. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie man schon von der oberen Wilhelmstraße kommend, das große Ständewappen, einen silbernen Teller, über der Eingangstür glänzen sah. Schade, dass diese Tradition im heutigen Aachener Stadtbild verloren gegangen ist.

Zum Kindergarten in der Wilhelmstraße bracht mich mein Vater auf dem Weg in den Friseurladen mit unserem VW-Käfer. Zur Schule in der Beeckstraße ging ich später alleine. Der Weg führte mich über die Rolltreppe durch die damals noch vorhandene Unterführung am Kaiserplatz, in der zahlreiche Geschäfte waren. Ich erinnere mich an einen Blumenladen, einen Zeitschriftenladen, einen Schuster, ein Obstgeschäft, einen Schlüsselexpress und an diverse Schauvitrinen. Dort herrschte immer reges Treiben. Wenn ich auf dem Heimweg getrödelt habe, dann sicher vor den Schaufenstern der unterirdischen Geschäftswelt. Die Unterführung hatte vier Ein- bzw. Ausgänge.

Auch das Geschäftsleben direkt unterhalb der ältesten Aachener Pfarrkirche St. Adalbert war noch intakt und vielfältig. Besonders erinnere ich mich noch an den auffallenden Juwelierladen vom legendären “Goldfinger”, um den sich noch bis heute zahlreiche dubiose Geschichten und Gerüchte ranken. Das Schaufenster des Ladens wurde mit einem dicken Eisengitter, das zum Teil golden gestrichen war, vor Einbrechern geschützt. Schon dieses Gitter ließ erahnen, welche Schätze sich im Ladeninneren befanden. Goldfinger selber wohnte in einer großzügigen Villa, die zwischen der Lütticher Straße und dem Ronheider Berg lag. Das riesige Grundstück wurde ebenfalls durch ein massives schwarzes Eisengitter gesichert, dessen Eisenstangen im oberen Bereich ebenfalls golden angestrichen waren. Villa, Grundstück und Zaun sind heute noch zu bestaunen.

Hier noch ein paar Fakten zu St. Adalbert: Der Ursprungsbau der zweitältesten Kirche Aachens nach dem Dom wurde von Kaiser Otto III. zur Beherbergung einer Reliquie des Heiligen Adalbert (Bischof von Prag im 10. Jh.) in Auftrag gegeben, von seinem Nachfolger, Kaiser Heinrich der Heilige, erweitert und im Jahre 1005 geweiht. Die Adalbertkirche wurde auf einem hohen Schieferfelsen erbaut, der heutzutage als geologisches Naturdenkmal (Geotop) ausgewiesen ist.

Die großen Alleen und Stadtviertel rund um die Kirche mit reich ornamentierten Jugendstil-Häusern entstanden weitgehend erst im 19. Jahrhundert. 1879 erhielt der Platz, der zuvor Adalbertsrundplatz hieß, seinen heutigen Namen Kaiserplatz. Am 18. Oktober 1911 wurde das bronzene Reiterstandbild für Kaiser Friedrich III. eingeweiht. Im Zweiten Weltkrieg wurden 80% der Bausubstanz rund um St. Adalbert zerstört. In den Fünfziger Jahren entstanden flächendeckend Neubauten zu Wohn- und Geschäftszwecken, ein Kinopalast, der 2007 abgerissen wurde, und die von mir schon beschriebene, heutzutage geschlossene Fußgängerunterführung.

Anfang der Sechziger Jahre gab es den heutigen “Brennpunkt Kaiserplatz” noch nicht. Ich erreichte damals alleine ohne Furcht und Angst nach knapp 15 Minuten Fußweg den Schulhof. Heute wird von den Anwohnern, die sich nach der Ladenschlusszeit in ihrem Viertel nicht mehr sicher fühlen, die Drogenszene rund um St. Adalbert beklagt. Heutzutage ist das Viertel beliebt bei ausländischen Studenten und jungen Berufsanfängern auf der Suche nach günstigem Wohnraum. Es gibt eine Vielzahl kleiner Einzelhandelsläden, Cafes, Grillstuben und Dienstleistungsbetriebe, meist in internationaler Hand. International ist auch die St. Adalbert-Kirchengemeinde, die insbesondere Koreaner und Spanier betreut.

Mein besonderes Interesse zur Schulzeit galt der seit 1880 durch den Adalbertsteinweg zweigleisig fahrenden Straßenbahn. Eine Fahrt mit der Straßenbahn war für mich als kleiner Steppke immer ein tolles Ereignis. Mit meiner Oma Maria und meinem Opa Georg ging die Fahrt oftmals ins holländische Vaals zum billigen Kaffee-, Tee- und Zigarettenkauf. Auch so mancher köstliche Fladen oder Sahnehering wechselte dabei die Staatsgrenze. Das Fahrgefühl mit der Straßenbahn kann ich heute nur noch schwer beschreiben. Ich erinnere mich aber an den Schaffner oder die Schaffnerin, die im hinteren Wagon in einem kleinen Häuschen saßen und die Papier- oder Kartonfahrkarten von großen Rollen abrissen oder Sammelkarten abstempelten. Ihre Uniformen waren schwarz und sie trugen eine Dienstmütze. Das verschaffte ihnen mir gegenüber den nötigen Respekt und Anerkennung. Die Straßenbahnfahrt nach Vaals kam mir damals vor wie eine lange Reise. Leider wurden 1974 die Straßenbahnen in Aachen durch Buslinien ersetzt.

In unserem großen Wohnhaus in der Rudolfstraße fand ich täglich genügend Kinder, die mit mir zusammen im Garagenhof oder auf dem Wäschedach spielend die Nachmittage verbrachten. Natürlich achtete meine Mutter vorher darauf, dass alle Hausaufgaben und Schulübungen am Küchentisch erledigt wurden.

In der Rudolfstraße hatte ich im Jahr 1967 meinen ersten Kontakt mit einem Plattenspieler und der damals angesagten Beatmusik. Ich durfte Vaters Dual-Plattenspieler benutzen, um meine Winnetou Hörspielplatte zu hören. Dabei stöberte ich auch durch die kleine Plattensammlung meiner Eltern. Eine Platte hatte dabei besonders meine Neugierde geweckt, es war die „Riverboatparty“. Ob es der Titel war oder die auf dem Plattencover abgebildeten und mich freundlich anblickenden Musiker, die mich so neugierig machten, kann ich heute nicht mehr sagen. Auf jeden Fall war mein Verlangen so groß, dem tapferen Winnetou mal eine Pause zu gönnen und ein Gast auf der Riverboatparty zu werden. Die Musik faszinierte mich immer mehr – durch diese Scheibe fiel bei mir der Startschuß zu meiner bis heute anhaltenden Musikleidenschaft.

Ein weiteres Ereignis besonderer Art geschah an einem heißen Samstagnachmittag. Ich spielte barfuss mit meinen Freunden im Garagenhof und trat mit dem linken Fuß in eine große Glasscherbe. Das hatte ganz schön geblutet und ich weinte natürlich vor Schreck so laut, dass meine Spielfreunde vor Angst wegliefen. Durch mein Geschrei aufmerksam wurde ein Mann, der wie jeden Samstagnachmittag vor seiner Garage seinen teuren neuen Mercedes wusch. Er brachte mich zu seinem Putzeimer und streckte meinen linken stark blutenden Fuß in den Eimer mit kaltem klarem Wasser, brachte in Windeseile einen Druckverband an meinem Fuß an, lud mich in seinen Mercedes und fuhr mit mir ins Krankenhaus zur weiteren Behandlung. Während der Fahrt in seiner Nobelkarosse ermahnte er mich, sein Auto nicht mit Blut zu beschmutzen. Vor lauter Aufregung, in einem so tollen Wagen zu sitzen, vergaß ich die Schmerzen. Das war etwas anderes als Vaters Käfer!

Erst einige Jahre später habe ich erfahren, wer eigentlich mein Lebensretter gewesen war: Es war der bis heute nicht nur in Aachen und Köln bekannte Ballettmeister Peter Schnitzler. Der 1927 geborene Schnitzler war ab 1959 für 25 Jahre Ballettmeister am Aachener Theater. Danach zog es ihn nach Köln, wo er im Kölner Karneval bis heute nicht mehr wegzudenken ist. Der Tanz- und Choreographie-Maestro führte die Hebefiguren in den Tanz der Tanzpaare im Karneval ein. Auch die Idee, dass das Tanzmariechen stehend in den Saal getragen wird, entstammt u.a. seiner kreativen Inspiration.

Am benachbarten Rehmplatz, mit der 1887 von Bildhauer Pohl angefertigten und aufgestellten Aachener Mariensäule, war zwar ein städtischer Spielplatz, doch der stand bei uns jüngeren Kindern nicht so hoch im Kurs, denn den hatten die Älteren zu ihrem Revier erklärt. Da waren wir Kleinen unerwünscht. Trotzdem verbinde ich heute diesen Platz mit etwas Besonderem. Mein Opa Georg spielte damals für sein Leben gerne Skat. So traf er sich regelmäßig in einer Eckkneipe am Rehmplatz und ich durfte dabei öfters zusehen und bekam ein Glas Limonade. Doch eines Tages bekam ich dort von meinem Opa mein erstes Tülpchen spendiert. Ein Tülpchen war ein kleines Glas mit dunklem Malzbier. Von der Optik her sah es aber aus wie ein richtiges kleines Bier. Mensch, war ich damals stolz, endlich groß zu werden.

Mein Leben hat mich bisher zweimal zurück in mein altes Viertel gebracht. 1979 durfte ich während meine Banklehre einige Wochen in der Bankzweigstelle am Adalbertsteinweg arbeiten und 1983 schwang ich für einige Monate tapfer, aber mit mäßiger Begeisterung, bis hin zum Abschlussball das Tanzbein in der Tanzschule in der Beeckstraße. Doch zurück in die Sechziger.

Da die ganze Häuserzeile an der Kurbrunnenstraße von der Stadt mit und mit aufgekauft worden war und in naher Zukunft dort alle Häuser abgerissen werden sollten, wurde allen Mietern der Häuser gekündigt, so auch meinem Vater. Doch es sollte noch sehr lange dauern, bis die Abrissbirne anrollte, um die jahrelang leerstehenden Häuser abzureißen.

Mein Vater hatte damals schnell neue Geschäftsräume mit einer dazugehörenden Wohnung in Burtscheid in der Ellerstraße, der heutigen Malmedyer Straße, gefunden. So zogen wir 1968 aus unserem gewohnten Viertel nach Burtscheid. Bedingt durch dem Umzug besuchte ich zunächst die Schule Ellerstraße und später die Grundschule Michaelsberg. Meine Klassenlehrerin war dort die Ordensschwester Mechthilde. Meine erste Freundin war die rothaarige Ruth, die in meiner Schulklasse war. Der Höhepunkt in unserer kurzen Freundschaft war, dass mich Ruth auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades von der Schule nach Hause fuhr, deswegen prompt Ärger mit ihrem Vater bekam, der zunächst Sorge um das Fahrrad und dann erst um seine Tochter hatte. Ja, ich war immer schon ein strammer Bursche. Hätte Ruths Vater damals etwas von meinen bekannten Vorfahren, dem Prinz von Herzeleid und dem Rittmeister der Königin Juliane gewusst, hätte er vielleicht anders reagiert. Da ich nicht Ruths Prinz werden durfte, blieb mir damals nichts anderes übrig, als in meinem Kinderzimmer unbekümmert mit meiner Ritterburg zu spielen und abzuwarten, was in meinem Leben noch so alles passiert.


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3 Antworten

  1. Paul Fence sagt:

    Schöne Geschichte! Danke!

  2. D. Schmidt sagt:

    ..danke für die schöne n Erinnerungen.
    Geboren 1954 wohnten wir in der Beekstraße 16. Auch ich “musste” in den Kindergarten in der Wilhelmstraße mit den bunten Kringeln am Eingangstor…. Tante Dickmeis ?
    Oben , am Kaiserplatz war oft ein Kriegsversehrter in seinem , mir riesig erscheinenden, Holzrollstuhl. Bei ihm immer ein kleines Äffchen. Unten, in der Unterführung, spielte oft ein Mann auf mit Wasser gefüllten Gläsern gängige Melodien.
    Ja, endlich plane ich nun endlich einen Aufenthalt in der “alten Heimat” .

  3. Walter von den Driesch sagt:

    Lange habe ich nach dem Begriff “Tülpchen Dunkel (Malz)” gesucht und schließlich geglaubt, das sei eine Erfindung meines Vaters gewesen. Und jetzt erst finde ich ihn ausgerechnet in “Unser Aachen” wieder.
    Meine ersten “Tülpchen Dunkel” habe ich im “Südpol” (Beyss) Krugenofen oder im “Alten Zollhaus” (Rickmann) Burtscheider Straße genossen, meiner Erinnerung nach aus 0,1 Gläsern, an der Theke, neben meinem Vater.

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