Mit Noppeisen und Stopfnadel

Die Geschichte Aachens ist eng verbunden mit der Geschichte der Textilindustrie, gab es doch in früheren Zeiten in Aachen und Burtscheid etliche Tuchfabriken, Färbereien, Lohnstöpfereien, Walkmühlen, Poliermühlen, Farbmühlen usw.

Viele Männer und Frauen fanden in den Tuchfabriken Arbeit. Frauen wurden gerne als Spulerin, Zwirnerin oder Kettenschererin eingesetzt, sie bereiteten das eigentliche Weben vor. Um Webfehler zu reparieren, gab es viele Stöpferinnen.

Auch in meiner Familie arbeiteten meine Großeltern und meine Mutter im Textilhandwerk. Oma Maria (geb. 1900) hatte den Beruf der Zwirnerin erlernt, den sie bis zu ihrer Heirat ausübte, Opa Cornel (geb. 1899) war Weber. Bis zur Stilllegung im Jahr 1952 war er in der Tuchfabrik Aachen, Charlottenstraße angestellt. Hier hat er über 25 Jahre gearbeitet.

Langjährige Mitarbeiter erhielten einen Sonderrabatt auf Anzugstoff, den mein Opa aber nicht für sich selbst in Anspruch nahm, sondern seinem zukünftigen Schwiegersohn, meinem Vater, schenkte. Der ließ sich im  Schneideratelier  Wolf auf  Rothe Erde, gegenüber von St. Barbara, einen Maßanzug schneidern, den er bei der  Hochzeit mit meiner Mutter trug.

Mein Vater Josef im Maßanzug (1952) im Hangeweiher

 

1952  wechselte mein Opa zur Firma Croon, Annastraße, anschließend zur Tuchfabrik Leo Führen auf der Vaalser Straße und schließlich zur Firma W. Löhrer, am Viadukt in Burtscheid (ejjen „Peädsjaaß“).

 

Mein Opa Cornel in der Weberei (links am Fenster)

 

In den „schlechten Zeiten“ hat mein Opa in der Tuchfabrik auch schon mal Wolle „mitgehen lassen“, er steckte sie sich in die Socken und schmuggelte sie aus dem Betrieb. Zu Hause wurde sie zu Knäueln gewickelt und zum Stricken von kratzigen Pullovern oder Wollhosen für meine Mutter Käthi und ihren Bruder Köb verwendet. Oder er tauschte die Wolle bei einem Bauern in der Eifel, wo er sonntags mit dem Fahrrad hinfuhr, gegen Nahrungsmittel wie Butter und Speck ein.

Als Kind habe ich oft mit den leeren Garnspulen gespielt, wenn ich zu Besuch bei Oma und Opa war.

Garnspulen im Tuchwerk Aachen (Tag der offenen Tür 2017)

 

Nachdem meine Mutter (geb. 1931) die Volksschule verlassen hatte, absolvierte sie zunächst ein Pflichtjahr im Privathaushalt bei Frau V., sie half bei der Wäsche, beim Strümpfestopfen,  war aber vor allem das Kindermädchen vom kleinen Willi. Dafür erhielt sie 15 Mark im Monat. Wenn sie mit dem kleinen Willi spazieren fuhr, gab Frau V. ihr oft ein Butterbrot für den Kleinen mit („Buttichen“ nannte sie das), falls er unterwegs Hunger bekäme. Aber manchmal  wollte Willi nichts essen, dann aß Käthi eben das Brot selbst auf. Oft war es sehr langweilig stundenlang mit Willi herumzufahren, dann fuhr Käthi direkt mit ihm nach Hause in die Bendstraße, stellte den Kinderwagen in einer Ecke ab und blieb erst mal bei ihrer Mutter. Besonders oft machte sie das im Winter, wenn es draußen bitterkalt war.

Einmal sollte Käthi ein Kleid reparieren, es war ein Kleid mit weißen Punkten, das im Rückenteil Löcher hatte. Käthi stopfte die Löcher, aber es waren anschließend keine runden Tupfen, sondern quadratische Kästchen. Ein anderes Mal musste Käthi die Seidenstrümpfe von Frau V. waschen und draußen auf die Leine hängen. Der Haushund hatte wohl Gefallen daran und biss von einem Strumpf den ganzen Fuß ab, und Käthi versuchte ihn wieder anzunähen und dabei möglichst alle Maschen aufzufangen, was aber leider misslang.

Wirklich gut und richtig Stopfen lernte Käthi erst später. Ihr Vater hatte in der Tuchfabrik gehört, dass auf der Emmichstraße (heute Lütticher Straße) eine Stopfschule eröffnen sollte, die noch Lehrmädchen suchte. Käthi wurde dort angemeldet und begann mit insgesamt 60 anderen Mädchen die Ausbildung zur Stöpferin.

Die Stopfschule befand sich dort, wo heute die Filiale der Sparkasse ist, schräg gegenüber dem Jüdischen Friedhof. Lehrgeld gab es keins, im Gegenteil es musste noch ein Schulgeld entrichtet werden. Als Anerkennung erhielt  jedes Lehrmädchen während seiner Ausbildung einmal Gratisstoff für ein „Jäckchenkleid“ (Rock mit Jacke), das war`s.

Noch während der Ausbildung  meiner Mutter zog die Schule um zum Boxgraben, in das Gebäude der Textilingenieurschule, dort wo heute die Fachhochschule  zu Hause ist.

FH Aachen für Gestaltung, Kommunikationsdesign und Produktdesign heute, Boxgraben

 

Frau M. Huppertz (geb. 1935), eine Zeitzeugin, die auch den Beruf der Stöpferin dort erlernt hat, erzählte mir, dass sich oben unter dem Dach des Gebäudes ein großer Saal befand mit vielen großen Fenstern an den Seiten. Beim Arbeiten an den großen Tuchen brauchte man viel Licht. Seitlich zu den Fenstern standen große Tische, an den jeweils 2 Stöpferinnen arbeiten konnten. Ausrüstet mit Noppeisen, Schneiderkreide und Stopfnadel konnte die Arbeit beginnen.

Um sich eine Vorstellung von einer Stöpferei machen zu können, verweise ich auf ein Foto, das ich in den Schriften der Gesellschaft Burtscheid für Geschichte und Gegenwart e. V., Band 14, Unter Dampf, Beiträge zur Burtscheider Textilindustrie-Geschichte,  S. 105 fand: „Stöpferei in der Tuchfabrik Thierron, Bachstraße“. Im Gleichen Heft auf S.99 befindet sich auch ein Bild, dass Zwirnerinnen bei der Arbeit zeigt.

Bei der Stopfmeisterin, Frau Graf, lernten die Mädchen Fehler in den Tuchen, die von den Tuchfabriken geliefert wurden, zu finden, anzuzeichnen und zu beheben. Frau Huppertz berichtete mir, wie die Stöpferinnen die Tuchbahnen bearbeiteten:

Auf jedem Tisch wurde ein Tuchballen ausgebreitet und langsam abgewickelt. Zunächst wurde die linke Stoffseite kontrolliert, kleine Knoten wurden mit dem Noppeisen gelöst und entfernt („genoppt“) und mit dem Daumenrücken geglättet. Die Arbeiterin nannte man deshalb auch „Nöppesche“. Ein Noppeisen muss man sich wir eine sehr spitze Pinzette vorstellen.

Das sind noch Original-Noppeisen von meiner Mutter, welche jahrzehntelang in ihrem Nähkasten lagen und mit dem ich schon als Kind gespielt habe.

 

Im Universal-Lexikon findet man  unter dem Begriff „Noppeisen“ folgende Erklärung: Gerät zum Entfernen von Noppen im Rohgewebe  oder  pinzettenartiges Werkzeug zum Entfernen von Noppen aus Geweben

Unter dem Begriff „Noppen“ liest man: Von gewebten Tuchen und kammwollenen Zeugen alle fremdartigen Körper wie z. B. Stroh und Holzsplitterchen, Knötchen, Fadenenden und dgl. wegnehmen, es geschieht mit dem Noppeisen

Das Verb „noppen“ steht für: zwicken oder rupfen,  die Tuchmacher noppen die gewebten Tuche, wenn sie die Knoten mit dem Noppeisen abzwicken.

Auch Frau Huppertz besitzt noch ihr altes Noppeisen und wenn sie könnte, würde sie „morgen sofort wieder anfangen“ damit Tuche zu bearbeiten!

Kleine Löcher oder Stellen an denen der Schussfaden fehlte wurden zunächst mit Schneiderkreide angezeichnet und anschließend gestopft.  Das Garn zum Stopfen gewann man dadurch, dass man am Ende des Tuches ein paar Webreihen „aufribbelte“. Das Tuch zog sich die Stöpferin über den Schoß und flickte die kleinen Löcher mit Hilfe spezieller Stopfnadeln, sogenannter Kugelnadeln, die an ihrem Ende nicht spitz waren, sondern in einer kleinen Kugel ausliefen.

Nachdem die linke Tuchseite bearbeitet wurde, wurde die rechte Seite genauso kontrolliert und repariert.

Hatten die Stoffballen, die Stöpferei verlassen kamen sie in die Walk- und Plüsterei. Hier fand die Endkontrolle ab. Kleine Flusen, die noch an den Tuchen hafteten wurden auch hier mit einem Noppeisen entfernt, diese Wollzupferinnen nannte man „Plüüstersche“. Die Tuche wurden gewalkt und mit Hilfe einer Schermaschine erhielten sie den „letzten Schliff“.

Einmal in der Woche ging Käthi in der Rochusstraße zur Berufsschule, hier hatte sie den theoretischen Unterricht.

Käthi beendete ihre  Ausbildung  im März 1948, auf ihrem Abschlusszeugnis wurden ihre Fertigkeiten in Stopfen mit „sehr gut“, Bindungslehre, Führung und Mitarbeit  mit „gut“ bewertet.

Aufgrund ihres sehr guten Abschlusses wurde Käthi zusammen mit zwei anderen Kolleginnen zur Vorarbeiterin ernannt, die nun ihrerseits neue Lehrmädchen anlernen durften, für ein Gehalt von 150 Mark im Monat! Von ihrem Wochenlohn durfte Käthi 10 Mark behalten, die sie für ihre Aussteuer sparte.

Eines dieser Lehrmädchen war Frau Huppertz. Aus ihren Erzählungen weiß ich, dass ihr Vater damals für die einjährige Ausbildung an der Stopfschule 85 Mark bezahlen musste. Die Arbeitszeiten waren Mo – Fr von 8.00 – 17.00 Uhr mit 1 Stunde Mittagspause und samstags von 8.00 – 12.00 Uhr. Während der Ausbildung gab es keinen  Anspruch auf Urlaub. Im April 1950 machte sie ihren Abschluss in der Stopfschule im Boxgraben. Ihr Vater kannte die Leiterin Frau Graf und diese besorgte ihr die erste Anstellung in einer Lohnstöpferei in Eilendorf. Dort verdiente sie 86 Mark pro Woche, das Geld gab es freitags in einer  Lohntüte. Bis auf 1 Mark Taschengeld musste sie den ganzen Lohn zu Hause abgeben. Sie wechselte dann später zur Lohnstöpferei Cloots auf dem Adalbertsteinweg und war froh über den kürzeren Weg zur Arbeit. Nach ihrer Heirat und als die Kinder kamen stopfte sie in Heimarbeit für die Tuchfabriken Hirtz und Führen.

Die Tuchstöpferei wurde sehr gerne in Heimarbeit ausgeführt, dass liest man u.a. in der o.g. Schrift „Unter Dampf“ im Vorwort: „… und schließlich sind zu fast jeder Tageszeit Menschen unterwegs, die auf den Schultern schwere Tuchballen tragen, die in Heimarbeit auf Webfehler untersucht und gestopft werden…“

Auch in dem Buch „Lautlose Welt“ – Das Leben meiner gehörlosen Eltern, von der Aachenerin Maria Wallisfurth, liest man im Kapitel 31 von der Arbeit der Stöpferinnen. Zwei unverheiratete Schwestern arbeiten als Stöpferinnen, eine bei  der Tuchfabrik Croon in der Annastraße, die andere in Heimarbeit.

 

Nach einigen Jahren als Vorarbeiterin in der Stopfschule im Boxgraben, ließ Käthi sich von einer Freundin überreden, zur Tuchfabrik Königsberger an der Jülicher Straße zu wechseln. Dort sei die Bezahlung besser. Der Lohn war zwar etwas höher, aber der Weg viel weiter und die Arbeit erheblich anstrengender und schwieriger. Erst später, als Käthi mit ihrem ersten Kind schwanger war bekam sie eine leichtere Arbeit zugewiesen.

Nach der Geburt meines Bruders Heinz ging sie noch ein Zeit lang weiterarbeiten, das Baby wurde von meiner Oma versorgt. Als dann meine Schwester Helma auf die Welt kam war das nicht mehr möglich. Mein Opa sorgte dafür, dass ihr Tuche der Firma Löhrer nach Hause gebracht wurden, sie arbeitete wenn die Kinder schliefen und abends, um die Haushaltskasse aufzubessern. Als ich dann das Licht der Welt erblickte  war es aus mit dem Stopfen, mit drei kleinen Kindern ging das nicht mehr.


 

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7 Antworten

  1. Feiner Artikel! Danke dafür …!

    Das mit der Stopfenschule in den Räumen der heutigen Filiale der Sparkasse war mir neu.

    Die heutige Lütticher Straße hieß von 1915 bis 1945 Emmichstraße. Wieso, weshalb, warum steht auf dem Link zu meiner Webseite.

    Beste Grüße | Peer

    • Unser Aachen sagt:

      (Darauf antwortete Hanne Follmer mit diesem Kommentar – der leider von der Software “gefressen” wurde, deshalb kopieren wir ihn hier rein:)

      Lieber Peer van Daalen,

      freut mich,dass Ihnen mein Artikel gefällt. Die Erklärungen wie die Emmichstraße zu ihrem Namen kam waren für mich sehr interessant und informativ!

      Vielen Dank dafür.

      Liebe Grüße

      Hanne Follmer

  2. Gabi Hildebrand sagt:

    Ein herrlicher Beitrag, ich selbst war 1961 in der Stopfschule bei Frau Falk gewesen, wollte den Beruf aber garnicht weiter ausüben, wenn man mich fragte was machst du den, habe ich immer gesagt ich bin auf der Textil-Ingenieur- Schule, wollte nie Stopfschule sagen. Obwohl ich in Bindungslehre und Stopfen ein ” Gut” hatte, habe ich doch den Beruf nicht weiter verfolgt, sondern bin Verkäuferin geworden. Lieben Gruß Gabi Hildebrand

  3. Richard Braun sagt:

    Liebe Hanne,
    beeindruckend, dass und was deine Familie bezüglich ihrer Lebensgeschichte erlebt hat. Anerkennung für deine Recherche, die mich als Leser eine wesentliche industrielle Epoche deiner Heimatstadt Aachen nachlesen und nacherleben lässt.
    Weiter so und alles Gute.
    Richard

  4. Manfred Haas sagt:

    Liebe Hanne,
    es ist sehr schön von diesen alten Erlebnissen zu lesen.
    Es können die jungen Leute sich nicht vorstellen, wie schwer die Leute in dieser Zeit ihr tägliches Brot verdienen mussten. Was auch gut so ist, denn man musste in so eine schwierige Zeit hinein geboren sein, um diese harte Zeit zu ertragen. Ich habe mal mit jungen Leuten über meine Kind und Jugendzeit erzählt, da meinten jene, dass hätte ich nicht getan! Nach weiteren Berichten hierüber, wurden sie kleinlauter.
    Ich habe ihnen erklärt, dass es keine Alternativen gab. ( Ich bin Jahrgang 1940 ,da war es schon etwas lockerer) Schön dass Du über diese Zeit , geschrieben hast,weiter so.
    Mfg. Manfred Haas.

  5. Wolfgang Sanders sagt:

    Sehr schöner Beitrag, besonders gelungen finde ich die Verknüpfung der Familiengeschichte mit der öcher Historie. Danke für die interessante Beschreibung.

  6. Elli Morgan sagt:

    Liebe Hanne,

    wieder ein feiner, sehr ins Detail gehende Beitrag.
    Das liebe ich an deinen Ausführungen.

    Danke
    Elli

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