Die Vegla im Frankenberger Viertel

Wenn wir als Kinder durchs Frankenberger Viertel streiften, kamen wir auch hin und wieder an der langen rot-braunen Mauer in der Bismarckstraße vorbei. An der Ecke zur Viktoriaallee standen noch ein paar alte Häuser aus der vorherigen Jahrhundertwende, zwei oder drei an der Zahl, der Rest war verwildertes Gelände. Die Nachkriegsbrache mit einigen angelegten Gärten hinter der Mauer war für uns Kinder ein Ort der unsere Fantasie beflügelte. Wir erzählten uns schauerliche Geschichten von spukenden Gestalten, Geistern und andere abstruse Märchen – wie Kinder nun mal sind. Ich bin Jahrgang 1962 und oben Erwähntes spielte sich so ca. Anfang der 70er Jahre ab.

Wir wurden älter und kamen in die Pubertät. Folglich gehörten frühkindliche Fantasiegebilde der Vergangenheit an, denn wir wollten ja erwachsen sein und nicht lächerlich kindisch.

Die damalige Zeit ist mit dem Viertel der Gegenwart nicht zu vergleichen. Es gab den kleinen Lebensmittelladen Schmitz-Schulze, daneben den Tabakwarenladen Keller (heute Jurewicz), dann kam der Kurzwarenladen von Frau Winkler (bis unters Dach vollgestopft mit Bettwäsche, T-Shirts, Socken etc.)  und nebenan die Metzgerei Engel-Schulze. Last but not least der Fritten-Schmitz gegenüber von Franz Weniger’s Insulaner. Gegenüber in der Bismarckstraße die Bäckerei Münstermann, daneben die Metzgerei Salvini und um die Ecke, direkt am Neumarkt die Bäckerei Lauffs, bei denen es so herrlich leckere Ein-Pfennig-Artikel wie Brausebonbons und Lakritze gab, nicht zu vergessen die Honigmuscheln für zehn Pfennig.

Auf dem Neumarkt spielten wir Gummitwist, Seilchenhüpfen, die Jungs Fußball und auf der Straße (!) fuhren wir mit den Rollschuhen. Im Frankenberger Park gab es einen großen Teich mit Kaulquappen/Fröschen und rund um die Burg Bäume, Sträucher und jede Menge wildes Gestrüpp, in dem wir Verstecken spielten. Ein Paradies für uns Kinder.

Wo war ich? In welchem Jahr? Ach ja. Mitte der 70er.

 

Dann kaufte die Aachen-Münchener Versicherung das riesige Brachgelände und entwickelte den zukünftigen Bau, der später Aufsehen erregen sollte.

Es ging los: die Planungen waren abgeschlossen, die Mauer wurde abgerissen, die verbliebenen Altbauten ebenfalls. 9000 qm Grund standen für das Projekt zur Verfügung, die Bauarbeiten begannen, es wurde mit Hochdruck gearbeitet. Die AM schuf als Bauherrin Fakten mit einem für damalige Zeiten einzigartigen Glasbau: rund 20000 qm Fläche, ca. 37000 Kubikmeter umbauter Raum, 1978 fertiggestellt und ´82 erweitert. Hauptmieter: die Vegla/Saint Gobain mit der Funktion eines Verwaltungsgebäudes, damals fälschlicherweise oft als Bauherr genannt.

Das Aquarium war geboren. Anwohner und Städtebauer rümpften die Nasen, hielten das Glasgebilde für eine architektonische Bausünde inmitten des wunderschönen Gründerzeitviertels und schworen Stein und Bein, sich niemals an diesen hässlichen Fremdkörper zu gewöhnen.

Nun ja. Ich war 16, hatte eigentlich anderes im Sinn, bekam aber sehr wohl die Diskussionen in unserer nicht gerade kleinen Familie mit. Vater fand es gut, Mutter nicht, kann auch sein, dass es genau andersrum war. So genau weiß ich es nun nicht mehr. Schließlich hatte ich Wichtigeres zu tun…

Man baute. Wir beäugten das Großunternehmen argwöhnisch, es sah schrecklich aus. So viel Glas, grünes Glas; wer will schon sowas im Viertel. Ein Schandfleck, da waren sich viele – aber nicht alle – Anwohner einig. Die Zeit war noch nicht reif für architektonisch futuristische Experimente. Es kam der Tag der Fertigstellung. Jetzt gingen die Frankenberger so richtig auf die Barrikaden: der Fernsehempfang war gestört. Es gab noch keine Sat-Schüsseln und auch noch keinen Kabelempfang, man empfing mit Antenne. Und genau diesen Empfang störte das massive, vielstöckige Gebäude. Die Anwohner wehrten sich, bildeten Arbeitsgruppen und suchten das Gespräch mit den Bauherren. Mit Erfolg. Die AM übernahm in den Folgejahren für alle betroffenen Anwohner die Kosten für den erweiterten Antennenempfang.

Dies war die Geschichte des “Aquariums” in den Anfangsjahren.

In den darauffolgenden Jahren beruhigte sich die Frankenberger Gemeinde. Der Glaskonzern Vegla/Saint Gobain hatte seinen Platz gefunden, die Anwohner gewöhnten sich an den Anblick, erkannten die architektonische Besonderheit des Zusammenspiels zwischen alt und hochmodern. Es wurde ruhig um den Glasbau.

In guten Zeiten arbeiteten bis zu 600 Menschen in dem klimatisierten Bau. Mitarbeiter kamen und gingen, die Zeit strich vorüber. 2014 verlegte Saint Gobain (Vegla) den Hauptsitz nach Stolberg, die Verwaltung zog ein Jahr später in einen Neubau an der Krefelder Straße. Die Innenausstattung war bereits veraltet. Klima- und Heizungsanlagen waren nicht mehr ohne weiteres sanierungsfähig, die Innenausstattung war nach ökologischem Standard heutiger Zeiten völlig überholt. Nach über 35 Jahren Nutzung stand das mächtige Gebäude, das lange Zeit zu kontroversen Diskussionen geführt hatte, leer und wurde von der Aachen-Münchener an den niederländischen Großkonzern „Bouwfonds“ verkauft.

Der Aachener Bauunternehmer Hubertus Nesseler interessierte sich für den Standort und erstand mit seiner „Nesseler Projektidee“, einem Teil der Nesseler-Grünzig-Gruppe, das riesige Areal von den Niederländern und begann mit den Planungen.

2016 war es soweit. Die „Nesseler Projektidee“ hatte die Pläne fertig, durch sämtliche Ausschüsse gebracht und bestand darauf, in den alten, ausgedienten Räumlichkeiten der Vegla zuallererst die Anwohner zu informieren. Das Interesse war groß, der Bauherr selber erläuterte den Bewohnern des Viertels sowie der Presse detailliert seine Pläne. Die Anwohner hatten viele Fragen, der ein oder andere äußerte großes Bedauern über den vorgesehen Abriss. Man hatte sich an das Aquarium gewöhnt, ja sogar ins Herz geschlossen.

Das Vorhaben:

Vorgesehen ist nun eine Mischbebauung, vorwiegend Wohnungen. Geplant sind rund 100 Wohneinheiten und Studentenappartements, 30% der Wohnbebauung mit Sozialbindung. Dazu kommen Büroflächen, Arztpraxen und ein großer Supermarkt im Erdgeschoss, im Untergrund eine Tiefgarage, unterteilt für Bewohner und Kunden. Alles auf einer Fläche von 9000 qm Grund. Die Bebauung an den Straßenfronten ist nicht einheitlich, sondern passt sich – laut Vorstellung – harmonisch ins Viertel ein, auch in der Höhe der Bauten. Siehe auch: https://nesseler-projektidee.de/referenz/aachen-viktoriaallee/

„Aus Vegla wird Viktoria“, wirbt Nesseler und hat im Juni 2018 mit dem Abriss begonnen.

Umfangreiche Vorarbeiten wurden anfangs im Inneren geleistet, das Gebäude wurde wochenlang erst zu den Häusern der Bismarckstraße hin kerngeräumt, Raum für Raum, anschließend in den weiteren Trakten. Containerweise wurden Jalousien, Rohre, Innenwände herausgerissen und abtransportiert, bevor Bagger anrückten und das gesamte Gelände großflächig mit einem Bauzaun – unterbrochen durch mehrere Tore – abgesichert wurde. Die ersten Glasscheiben an den Außenfronten wurden entfernt, der Marmorsockel abgebaut.

Nun wird schon seit einigen Wochen abgerissen. Abriss heißt in diesem Fall: die Scheiben werden mithilfe einer Art Baggerschaufel quasi zerprengt, Stück für Stück und nach jeder Reihe werden die Metalleinfassungen abgeknipst, ebenso der dahinterliegende Beton. Zwischen 7 und 7.30 Uhr morgens geht es los, Etage für Etage. Ein Teil des Traktes an dem vormals Cambio seine Fahrzeuge zwischenparkte, an der oberen Bismarckstraße, ist bereits abgetragen. Schaulustige – nicht nur aus dem Viertel – verfolgen Tag für Tag die Fortschritte, dokumentieren mit Kameras und Videos die Arbeiten. Mittlerweile hat man festgestellt, dass der Abriss nicht in der vorgegebenen Zeit zu schaffen ist, man hinkt hinterher.

Nun ist Ende November und seit einer Woche liegen die Abrissarbeiten brach. Die Schuttberge sind allumfassend abgedeckt und zurzeit ist Ruhe eingekehrt.

Wir werden den Abriss und die anschließenden Bauarbeiten weiter verfolgen. Und natürlich auch weiter dokumentieren.


November 2018.

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11 Antworten

  1. Hanne Follmer sagt:

    Die Frittenbude gegenüber vom “Insulaner” habe ich auch noch in guter Erinnerung. Als Student wohnte mein Mann in der Bismarckstraße und wir holten uns schon mal öfters “ein Tütchen Fritten”. Bei uns hieß der Chef des Hauses nur “Fritten-Rastelli”,weil er wie ein Zirkusakrobat die Kartoffelstäbchen mit seinem Schöpflöffel durch die Luft wirbelte. Er redete uns an mit “Die Dame” und “Der Herr” und fragte stets, ob wir eine kleine oder eine große “Fritüre” haben wollten. Der Besuch bei “Fitten-Rastelli” war immer ein Erlebnis! Wir reden heute noch davon.

  2. René H. Bremen sagt:

    hallo frau japers,
    danke für ihre nostalgischen ausführungen zum frankenberger viertel, woher auch ich stamme. nur 20 jährchen früher ! aufgewachsen in der von görschen strasse, als dort noch eine trümmerlandschaft das straßenbild prägte und die turpinstraße noch aus schrebergärten bestand. ja, den alten schreiner brammertz kannte ich auch. und natürlich all die aufgeführten “persönlichkeiten” des viertels. so ist für mich der vegla-bau nur eine zwischenepisode, die ich nur am rande wahrgenommen habe. was sind heute schon 30 jahre ? (siehe polizeipräsidium) aber der mensch erinnert sich gerne und schwelgt in der vergangenheit. so wie ich vielfach auf meine FEMINA-geschichte angeschrieben werde. met lejjv jröss, rené h. bremen

  3. Petra Jaspers sagt:

    Ich hab einen Fehler drin. Der Lebensmittel-Laden Schmitz-Schulze, dann der Kurzwarenladen von Frau Winkler und erst danach Keller (heute Jurewicz)!

  4. Gaby Heinfling sagt:

    Petra…vor meinem geistigen Auge habe ich alles genau mitverfolgt, ich erinnere mich auch noch an das große alte Haus uns gegenüber….da wo heute der Netto…glaube ich….drin ist. Das war ein riesiges Haus mit einem Hinterhof in dem es Remisen und Stallungen gab. Und zwei Häuser weiter war der ..heute würde man Tante Emma Laden, der Eheleute Timmermann. Und wenn ich als Kind da hin geschickt wurde musste ich immer auf die Tram aufpassen.

  5. Kirstin Münstermann sagt:

    Ach Petra, das hast du wunderschön geschrieben… wenn auch ein paar Jahre jünger als du, so hast du dennoch Bilder aus meiner Kindheit wieder zum Leben erweckt… An die Leckereien bei Lauffs kann ich mich besonders gut erinnern und auch an alle anderen Läden. Bei Salvini bekam man immer eine Scheibe Schinkenwurst zusammengerollt in die Hand geschenkt… Bei Lebensmittel Schmitz haben wir die orangefarbene Einkaufstasche von Oma bis oben hin voll gepackt und bei Winkler erinnere ich mich noch gut an die vielen bunten Stoffe und Garne und die gedämpfte Atmosphäre nachdem die Türe hinter einem zufiel. Das mit dem gestörten Fernsehempfang durch das Aquarium hingegen wusste ich gar nicht! Interessant auch, die ganze Geschichte mal so zusammengefasst lesen zu können und das noch mit der emotional verbundenen Note deiner eigenen Erfahrung und Sichtweise. Vielen lieben Dank dafür! Kiki

  6. I. bruckmann sagt:

    hallo ihr lieben. ich bin zwar mit 20 jahre nach belgien gezogen, bin aber in aachen 1950 geboren. ich bin 1957 zur unteren turpinstrasse am bucker gezogen. die häuser waren gerade fertig gestellt worden. sie waren für kinderreiche familien gebaut worden. in unsere haus nr. 8 wohnten in sechs wohnungen so an die 35 kinder. zwei familien hatten so an die 7-9 kinder, die aber nicht lange da gewohnt haben, und umgezogen sind, wegen platzmangel. zum spielen gab es genug möglichkeiten. das bahngelände moltkebahnhof, die bergische gasse, den frankenberger park mit burg und bunker. dann noch den neumarkt, wo wir auch fussball spielten und karneval im kreis hüpften und sangen. man nahm sich ein mädchen und hüpfte im kreis und gab ihr zum schluss einen kuss auf den mund. danach holte man sich ein anderes Mädchen, und so weiter. die geschäfte kenne ich auch noch alle . ich musste aber meistens in der damaligen karlstrasse einkaufen. auf der ecke links war ein lebensmittelladen. weiter rechts ein milchgeschäft, wo ich mit der milchkanne lose milch aus dem zapfhahn holen musste. am ende der strasse links auf der ecke war ein schuster im keller beheimatet. jetzt ist da wohl ein kleines café drin. rechts auf der ecke war eine frittenbude die auch eis verkaufte. zur schule musste ich immer noch zur eintrachtstrasse gehen. ich war beruflich aber noch sehr viel in aachen unterwegs, und gehe heute noch gerne im frankenberger viertel spazieren.

  7. Karin Bonn sagt:

    Hallo Petra Jaspers,
    dein Artikel hat bei mir als Exil-Aachenerin viele Erinnerungen geweckt. Ich wohne nun schon ca. 30 Jahre in Köln, aber das Frankenberger Viertel ist mir immer noch in schöner Erinnerung. Ich bin auch dort aufgewachsen und kenne alle die von dir beschriebenen Orte.
    Bei deiner Autorenbeschreibung wurde mir klar, dass ich dir auch persönlich begegnet bin. Du bist die kleine Schwester von meiner damals besten Freundin Resi Brammertz. Ich war oft bei euch zuhause und auch deine Eltern, deine Schwester Elisabeth und deine “Nenntante” Cilli, die ihrerseits eine beste Freundin meiner Mutter war, kannte ich ganz gut.
    Ich muss es ja sagen, dass ich damals ganz vernarrt in die “kleine Schwester” von Resi war; die Sympathien waren – denke ich – beiderseitig: du hast mir sogar einmal eine deiner kleinen Sammelfiguren geschenkt (ich glaube, es war eine Mickymaus). Hat mich sehr gefreut damals.
    Deine Schwester und ich sind in die gleiche Klasse der Luise-Hensel-Realschule gegangen; das war in der Zeit von ca. 1965 bis 1970. Aber wir kannten uns schon aus der Grundschule. Danach haben wir uns leider aus den Augen verloren.

    Ich sende dir liebe Grüße aus dem (nicht so) fernen Köln – und grüße bitte deine Schwester von mir (am 20.03.2020 steht ein Klassentreffen an – unfassbare 50 Jahre Schulentlassung Realschule – vielleicht sehe ich sie ja da.
    Karin (damals Kohl)

    • Petra Jaspers sagt:

      Oh, das ist ja schön! Ich kann mich leider nicht erinnern, liebe Karin Bonn. Aber alles trifft zu!
      Unser Vater ist erst vor wenigen Wochen gestorben und auch Cilli und Hans leben nicht mehr.
      Gerne werde ich das an Resi weiterleiten – sie lebt schon seit vielen Jahren in Mainz. Liebe Grüße aus Aachen. Petra

  8. Dieter Systermanns sagt:

    Wenn ich darf würde ich mal erwähnen das ich in dem Viertel damals Marktleiter eines kleinen Tengelmanns war in der Bismarkstrasse. Als Öcher behaupte ich ein wunderschönes Viertel. Alles sehr Familiär und sehr ,,intim”. Eine sehr schöne Zeit. Aber ein riesiger Wandel der da passiert … Tolle ,,Aachener Ecke’

  9. Petra Jaspers sagt:

    Dieter Systermanns, ich erinnere mich an Dich. Ist allerdings schon sehr lange her.

  10. Renate Szatkowski sagt:

    An Gaby Heinfling und Petra Jaspers: Ich wurde 1967 in dem alten Haus mit Stallungen und Remisen, Bismarckstraße 125, geboren. Wir lebten im Haupthaus. Mussten dann ausziehen, weil es abgerissen werden sollte. Das verstehe ich bis heute nicht. Dieses Haus hätte doch unter Denkmalschutz stehen müssen, oder? Hat irgendwer ein Foto von dem Haus? Auf jeden Fall wohnte meine ganze Familie in der Bismarckstraße oder um die nächste Ecke, von Hahnbück über Keilhauer bis Müllenmeister 😀

    LG, Renate Szatkowski

    Viele Grüße aus Burtscheid.

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